Der kleinstmögliche Eingriff
Der Soziologe Lucius Burckhardt schrieb bereits 1979–1981 von der Planungstheorie „Der kleinstmögliche Eingriff“. Seine Ansätze haben an Aktualität nicht verloren. Im Gegenteil. Für das gesamte Bauwesen drängt sich die Frage nach dem ästhetischen Verständnis der Umwelt und dem ihr gerecht werdenden Eingriff immer mehr auf.
Text: Marcella Zauner | Fotos: Darko Todorovic
Bund, Land und Gemeinden arbeiten zusammen an Zielplänen, die ein Fortschreiten von Zersiedelung unterbinden. Das Bauen „auf der grünen Wiese“, fern ab von einem baulichen Kontext, ist insbesondere in Vorarlberg nicht mehr möglich. So stellt sich bei jedem Umbau als auch Neubau die Frage, wie sich Bauwerke in die Umgebung einfügen können. Aber wie kann ein Ortsbild erhalten bleiben und durch bauliche Entwicklungen an Identität gewinnen? Trotz technischer Fortschritte und kulturellen Veränderungen lassen sich Merkmale der gebauten Umwelt aufnehmen und übersetzen. Planer(innen), genauso wie Bauherrschaften, sind gefragt, Lösungen dafür zu finden.


Die Architekten Hermann Kaufmann und Christian Lenz haben sich 1982 bei der Planung des Einfamilienhauses Rüscher Gedanken dazu gemacht, wie ein kleinstmöglicher Eingriff ins Ort- und Landschaftsbild von Schnepfau aussehen könnte. Ihr damaliger Auftrag lautete, eine Garage zu überbauen und Wohnraum für eine junge Familie zu schaffen. Die zentrale Herausforderung bestand darin, der bestehenden Garage ihre massive Präsenz zu nehmen und den funktionalen Nebenschauplatz durch eine Überbauung in die Gesamtarchitektur und das Ortsbild zu integrieren. Die Architekten entwickelten eine Lösung, bei welcher das Dach über zwei Stockwerke gezogen wurde und somit einen schlanken Baukörper formte.

„Die Radikalität des Entwurfes, die konsequente Durcharbeitung bis ins letzte Detail sowie der hohe Grad an Wohnlichkeit machen das Gebäude für mich zur nachhaltigen Inspirationsquelle für meine eigene Arbeit.“
Simon Moosbrugger
Architekt

Die Dachneigung wurde dabei aus dem natürlichen Gelände der Umgebung entwickelt. Der Neigungswinkel wurde als gestalterisches Element in der Holzschalung der Außenfassade als auch beim diagonalen Holztäfer im Innenraum verwendet. Die steile Dachform trug des Weiteren wesentlich dazu bei, die Traufhöhe möglichst gering zu halten, wodurch sich der Baukörper unaufdringlich in die Umgebung einfügte. Der Entwurf des Einfamilienhauses wich teilweise vom damaligen Ortsbild ab, zeigte aber dennoch eine Verwandtschaft zu seiner Umgebung. Dachform, Baumaterial und Volumetrie des Gebäudes nahmen Bezug auf Bestehendes, aber besonders das steile Dach, mit seinen markanten Einschnitten und einer ortsunüblichen Eindeckung, wirkten auf den ersten Blick unkonventionell.


Obwohl in den 1980er-Jahren großzügig Bauflächen gewidmet wurden und der Fokus weniger auf Innenentwicklung und Nachverdichtung lag, entschied man sich hier bewusst, bestehende Strukturen umzunutzen und einen Beitrag zur Baukultur in Schnepfau zu leisten. Über vier Jahrzehnte später folgt nun Architekt Simon Moosbrugger demselben Prinzip. Seine Aufgabe bestand nicht darin zusätzlichen Wohnraum zu schaffen, sondern den bestehenden zu revitalisieren. Aber auch eine Sanierung birgt das Risiko mehr zu verändern als nötig. Doch die Erkenntnis der Ästhetik des Bestandes hat Simon Moosbrugger davon überzeugt, so wenig wie möglich zu verändern. Denn der gestalterische Grundgedanke wurde damals sowohl von den Architekten als auch vom Bauherrn, einem gelernten und ambitionierten Tischler, geteilt und gemeinsam weiterentwickelt. Das Zusammentreffen von Architektur und Handwerk führte zu einer hohen Wohnqualität. Der Werkstoff Holz wurde vielseitig eingesetzt.


Das Resultat zeigt eine zeitgemäße Übersetzung von traditionellen Holzarbeiten. Die Konstruktionsweise wurde als Gestaltungselement genutzt, und Primär- und Sekundärträger sichtbar gelassen. Das konstruktive Raster wurde zum Taktgeber für die Raumaufteilung und Anordnung von Fensterflächen in der Fassade. Die Oberflächen im Innenraum wurden getäfert, horizontal und diagonal. Auffällig ist die dadurch entstandene angenehme Raumakustik. Obwohl kaum Textilien in den offenen und großzügigen Wohnräumen vorhanden sind, unterhält sich eine Gruppe von Leuten hier sehr gut. Letztlich wurde das Bad aufgrund neuer Bedürfnisse umgebaut. Ansonsten wurden technische und optische Details nachgearbeitet, wo aufgrund von Witterung und Abnutzung Schäden entstanden sind. Die Arbeit der Architekten und die Bereitschaft der Bauherrschaft zeigt einen wertschätzenden Umgang mit Vorhandenem. Vom großen Maßstab, dem Orts- und Landschaftsbild bis zum Kleinen, der Nachbesserung von Holzarbeiten Zentimeter für Zentimeter. Der kleinstmögliche Eingriff fand somit große Wirkung.
Daten und Fakten
Objekt: Revitalisierung Haus Rüscher, Schnepfau
Bauherr: Maria und Heinz Rüscher
Architektur: Revitalisierung: DI Simon Moosbrugger Architekt ZT, Andelsbuch | Wien, www.simonmoosbrugger.com
Planung: 06/23–09/23
Ausführung: 09/23, 02/24–03/24
Grundstück: 930 m²; davon Nutzfläche 140 m²
Bauweise: Holzständerbauweise auf bestehender, betonierter Garage im Hang, Holzzwischendecke mit Lufträumen zwischen OG und DG, offenes Raumkonzept mit markantem Steildach und eingeschnittenen Terrassen/Wintergarten, Eternitdeckung, Heizung: Microfernwärmenetz über Fußböden
Ausführende: Zimmerer: fb Holzbau, Schnepfau; Fenster: Alex Beer, Schnepfau; Elektro: Albrich, Schnepfau; Böden: Josef Fröwis, Bezau; Maler und Beschichtungen: Compar‘s Wendl, Egg; Verputz: Moosbrugger Verputz, Schnepfau, Installa-
tionen: awa installationen; Dachdecker: Rusch, Alberschwende; Steinbelag: Lenz, Alberschwende; Möbel: Tischlerei Rüscher, Schnepfau