Nicht Mies van der Rohe war der Architekt dieser Villa Tugendhat,
sondern (Heinrich) Danzeisen & (Hans) Voser. Sie steht auch nicht in Brünn,
heute Brno, sondern in St. Gallen, und ist etwa dreißig Jahre jünger als ihre
Vorgängerin, die zum Weltkulturerbe zählt. Aber auch sie war, nach den Worten
von Ruth Tugendhat-Guggenheim, maßgeschneidert auf ihre Eltern abgestimmt.

Autorin: Claudia Rinne | Fotos: Karin Nussbaumer

Noch immer sticht die St. Gallener Villa Tugend hat mit ihrer Dachform heraus aus dem Siedlungsgefüge. Ein Schmetterlingdach mit ungleichen Flügeln über dem eingeschoßigen Gebäudeteil und zwei aneinander stoßende Pultdächer mit verschieden hohen Traufkanten über dem zweigeschoßigen Gebäudeteil werden durch die Verkleidung der Giebel und des Obergeschoßes mit einer dunklen Holzbretterschalung zusammengefasst.

Unter dem kürzeren Flügel des Schmetterlingsdaches liegen die Privaträume. Unter dem längeren, von der Straße aus gesehen hintereinander, eine Einliegerwohnung, ein Atrium und ein großer Wohnbereich.
Schon beim ersten Schritt in die Villa hat man einen fantastischen Blick bis in den rückseitigen Garten. Man lässt die Treppe links liegen, hält kurz an und schaut ins Atrium, das das helle Tageslicht von rechts erklärt, und bleibt am Marmorkamin stehen, um die ganze Weite des Hauptraums und seiner gläsernen Front zum Garten zu erfassen.

„Durch den Rückbau konnten wir den wegweisenden
Geist der Moderne wieder freilegen
und in seiner ganzen Klarheit aufblühen lassen.“

Philipp Gmeiner
Gmeiner Miatto Architekten

Links, mit der Küche im Rücken, steht ein Esstisch frei im Raum, rechts liegt der Wohnbereich, zwischen Atrium und Garten. Er verwandelt sich in einen überdachten Freiraum, sobald die einander gegenüberliegenden Glasschiebetüren komplett geöffnet werden. Die hellen Travertinplatten am Boden sind restauriert, sie sind so alt wie das Haus.

Die Front zum Garten ist nicht einfach nur durchsichtig. Sie ist als Gebäudevorsprung ausgebildet, der sich vor den Privaträumen, rechts hinter dem Wohnbereich, als gedeckte Terrasse fortsetzt und an drei Seiten verglast ist — man hat nicht nur ein gerahmtes Naturbild vor Augen, sondern steht fast schon drinnen im Garten.

Die jetzigen Bewohner(innen) leben schon in zweiter Generation in dem Haus. Ihre Eltern hatten es nach ihren Bedürfnissen umbauen lassen. Schon damals waren die Pläne für die Bodenheizung unauffindbar und sie konnte nicht betrieben werden. Erst beim aktuellen Umbau, der in vielen Aspekten eine Restauration war, wurde das Rätsel gelöst. Unter dem Travertinboden verliefen nicht die erwarteten Wasserschläuche, zu denen man nie die Anschlüsse gefunden hatte, sondern erhitzbare Kabel.

Als die jetzigen Bewohner(innen) das Haus von den Eltern übernahmen, haben sie außer den Badezimmern und der Küche, die zwar noch gut funktionierten, aber im farbenfrohen Stil der späten 1970er-Jahre leuchteten, wenig geändert. Gemeinsam mit den Architekten Philipp Gmeiner und Benjamin Miatto setzten sie sich mit den ursprünglichen Plänen auseinander und begaben sich auf Spurensuche. Ein vermauertes Fenster zum Atrium, von der früheren Einliegerwohnung aus, wurde wiederhergestellt, ein weiteres, das von einem der Schlafzimmer ausging, nicht. Ursprünglich konnte man nur durch den großen Hauptraum, im Sommer mit Abkürzung durch das Atrium, in die privaten Räume gelangen. Rechts vom Eingang lag die vollkommen separierte Einliegerwohnung. Erst spät wurde für die Mutter von Grete Tugendhat eine direkte Verbindung zwischen Einliegerwohnung und Privaträumen hergestellt, die beibehalten und erweitert wurde.

Auch die stärkste Änderung behielten die jetzigen Bewohner(innen) vorläufig bei. Die Zone vor dem Marmorkamin gehörte ursprünglich als überdachter Freisitz zum Atrium. Glasschiebeelemente am inneren Gang konnten komplett hinter der Wandscheibe vor dem Eingang zur Einliegerwohnung verschwinden, ein offener Wohnbereich rings um den Kamin geschaffen werden. Dieser changierende Raum wurde durch Versetzen der gläsernen Trennung eindeutig definiert, er liegt innen. Außen ist nur mehr der Bereich unter freiem Himmel.
Im ersten Stock blieb alles, wie es (fast) immer gewesen ist. Nur die Nutzung hat sich verändert. Als die Familie Tugendhat 1957 einzog, lebten im Obergeschoß ihre fast schon erwachsenen Kinder und eine Hausangestellte. Jetzt sind dort Arbeits- und Gästezimmer, während das Kinderzimmer im ehemaligen Zimmer der Dame im Erdgeschoß liegt. Das Haus wirkt in seiner aktuellen Fassung, in der Art wie es heute belebt und bewohnt wird, vollkommen schlüssig. Anders als die Villa Tugendhat in Brno ist die Villa Tugendhat in St. Gallen immer ein Wohnhaus geblieben. Und was für eines!

Eine Baukulturgeschichte von
vai Vorarlberger Architektur Institut
Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg. Neben Ausstellungen und Veranstaltungen bietet das vai monatlich öffentliche Führungen zu privaten, kommunalen und gewerblichen Bauten. Mehr unter Architektur vor Ort auf www.v-a-i.at

Daten & Fakten

Objekt Wohnhaus, St. Gallen, Rotmonten, errichtet 1957
Bauherr privat
Architektur Gmeiner & Miatto Architekten, www.gmeiner-miatto.com
Statik Hämmerle – Huster, Bregenz, www.diestatiker.at
Planung 05/2018–03/2019
Ausführung 03/2019–12/2019
Grundstücksgröße 1156 m²
Nutzfläche 344 m² (zzgl. Keller 136 m²)
Bauweise Keller betoniert, Erdgeschoß: zweischa- liges Mauerwerk mit Kerndämmung: Obergeschoß: Holzbauweise; Decken:
Beton, Dach: Holzkonstruktion mit vertikalem Holzschirm außen; im Erd- geschoß Außenwände verputzt, innen Kalkputz; Böden: teilweise original Travertin; Heizung wie Bestand: (noch) Öl über Radiatoren; Kaminofen mit originaler Steinverkleidung
Besonderheiten Bauherr 1957: Fritz Tugendhat
Ausführung Verputz- und Malarbeiten: Friibau, St. Gallen; Elektrik: Prader, Rorschach; Sanitär: Dorfinstallateur, Wolfurt; Tischler: Jodo, Lingenau; Stein: Bauer, Höchst