Das Gesundheitshaus in Lingenau ordnet sich mit Schindelkleid und Walmdach in den Dorfkern und orientiert sich an den Bauformen der Altvorderen. Was man ihm nicht ansieht: Seine schlanke und digitale Haustechnik ist ein Gegenmodell zur technischen Hochrüstung heutiger Bauten. Baumschlager Eberle revolutionieren damit das Bauen von Vorarlberg bis China.

Autorin: Axel Simon | Fotos: Jens Ellensohn, Eduard Hueber

Normal Als ganz normales Haus passt sich das Gesundheitszentrum in den Dorfkern von Lingenau. Vorn steht es an der Hauptstraße, hinten schiebt es sich in den grünen Hang.
Vorbild Walmdach und Holzschindelkleid: Das traditionelle Wälderhaus stand beim Entwurf Pate. Nicht weit vom Neubau steht das alte Kaplanhaus neben der Kirche.

Zwischenstopp in Lustenau. Der weiß strahlende Würfel, der dort in den Feldern steht, rüttelte vor sechs Jahren die internationale Bauwelt durcheinander. Das Hauptquartier des Architekturbüros Baumschlager Eberle feierte man als „Haus ohne Technik“, als gebaute Hoffnung auf eine nachhaltige Zukunft ohne dicke Kunststoffisolation und ohne „Zwangslüftung“. „2226“ nannte Dietmar Eberle das radikale System hinter dem Haus, weil die Temperatur darin stets zwischen 22 und 26 Grad Celsius bleibt. Erfunden hatte er es, um ein Gebot der Stunde zu erfüllen, nämlich den sorgsamen Umgang mit Energie – mit einem Haus ohne Heizung, mechanische Lüftung oder Kühlung, dafür mit dicken, massiven Mauern. Die Wärme liefern hier die Menschen selbst und ihre Geräte. Einige Jahre war es still um 2226. Nun hat die Hoffnung Nachwuchs bekommen. Und das ist unser Grund, in den Bregenzerwald zu fahren. In Lingenau angekommen suchen wir vergebens nach einem strahlenden Monument, wie dem weißen Würfel von Lustenau.

Bei seinen Innenräumen löst sich das Haus von traditionellen Formen. Die Gänge dienen der Erschließung und bieten gleichzeitig angenehme Aufenthaltsqualität.Tragende Wände sind weiß verputzt, die anderen mit Holz verkleidet.
Vom Gang betreten die Besucher die Behandlungsräume. Die Holzwände bilden einen starken Kontrast zum Weiß von Boden und Decke. So wirken sie wie eingestellt.

Das Haus nahe der Kirche hat Schindelkleid und Walmdach. Dietmar Eberle, gebürtiger Hittis-auer, hat für 2226 von der Kargheit und Pragmatik der Wälderhäuser gelernt. Sein Neubau in Lingenau spiegelt das nun auch erstmals nach außen. Im Zentrum des 1500-Seelen-Dorfes ist es ein ganz normales Haus. Zur Hauptstraße richtet es sich mit Parkplätzen und Bäumen, dem Eingang und einem Geschäftslokal, sein hinteres Ende steckt im Hang. Der Arbeitskreis für Vorsorge- und Sozialmedizin (aks gesundheit GmbH) hat das Haus gebaut und nutzt es mit Behandlungsräumen und vier Wohnungen unterm Dach. „Es ist keine Kopie eines Wälderhauses“, sagt Jürgen Stoppel, Partner bei Baumschlager Eberle, „aber es strickt den Ort weiter.“ Das kraftvolle Kaplanhaus, das zwischen Kirche und Neubau steht, diente als Vorbild, so beim Walmdach oder dem Kleid aus Holzschindeln. Über den Fenstern werfen sich die Schindeln zum Gesims auf, das Fenster und Läden vor der Witterung schützt.

Anders als beim Kaplanhaus geht das Holzkleid des Neubaus mit einer eleganten Hohlkehle in die Traufe des Daches über – ein Detail, das laut Stoppel in der Region erst jenseits der Schweizer Grenze verbreitet sei. Hier verbindet es das Dach schön mit dem Baukörper. Auch im Innern verlässt das Haus traditionelle Vorbilder, um mit Schwung andere Formen zu erkunden: Die Gänge zwischen den Behandlungsräumen verzweigen sich so weich und gerundet wie die Äste eines Baums. Tragende Wände sind weiß verputzt, die anderen mit eng stehenden Holzleisten verkleidet – fein gearbeitet, schließlich sind wir im Bregenzerwald. Wie beim Prototyp von 2226 in Lustenau fühlen auch hier Sensoren Temperatur, Luftfeuchtigkeit und CO2-Gehalt jedes Raums und schicken die Daten an den Hauscomputer. Übersteigen sie den Grenzwert, öffnen sich automatisch in den Fensterlaibungen verborgene Lüftungsklappen. Wände und Betondecken speichern die Wärme und halten die Luftfeuchtigkeit konstant – ein gesunder Vorteil gegenüber ständig belüfteten Räumen.

„Es ist keine Kopie eines Wälderhauses, aber es strickt den Ort weiter.“

Jürgen Stoppel
Baumschlager Eberle Architekten

In jedem Raum fühlen Sensoren Temperatur, Luftfeuchtigkeit und CO2-Gehalt und schicken die Daten an den Hauscomputer. Übersteigen sie den Grenzwert, öffnen sich automatisch verborgene Lüftungsklappen in den Fensterlaibungen. Wände und Betondecken speichern die Wärme und halten die Luftfeuchtigkeit konstant – ein gesunder Vorteil gegenüber ständig belüfteten Räumen.

Im Dachgeschoß vermietet der Besitzer vier Wohnungen, erschlossen von einem spektakulären Gang, der bis unter den Dachfirst reicht. Der Verzicht auf Technik ist beim Wohnen schwerer umzusetzen als bei Büros: Es fehlt die Abwärme von Computern, Beleuchtung und auch von Menschen, denn Wohnräume haben weniger Nutzer und unregelmäßige dazu. An den Lingenauer Wohnzimmerwänden hängen darum weiße, quadratische Platten – Infrarotstrahler, wie man sie aus dem Baumarkt kennt. Auch die Spiegel in den Bädern und den Behandlungszimmern der unteren Geschoße strahlen bei Bedarf warm. Kein Widerspruch bei einem „Haus ohne Technik“? Nein, betont der Architekt, denn sie seien nur für einzelne Betriebsstunden in den Wintermonaten gedacht, wenn die Bewohner wenig zu Hause seien oder es abends einmal ein Grad wärmer haben wollen. Der effektive Stromverbrauch sei sehr gering. Und bei der nächsten Wohnanlage, die Baumschlager Eberle gerade in Dornbirn baut, wird der Strom dafür vom eigenen Dach kommen. Das Haus in Lingenau zeigt: Wer experimentiert, lernt viel dazu. Drei 2226-Projekte sind gebaut, drei in Bau. Zwei Dutzend weitere sind „in der Pipeline“: Wien, Deutschland oder China, die Größe nimmt zu. Der sorgsame Umgang mit Energie wird dringlicher, das Klima immer wärmer. Konzepte wie 2226 verlieren dabei an Radikalität. Sie gewinnen aber an Breite und werden vielleicht einmal zum neuen Mainstream.

Die Verkleidung aus eng stehenden Holzleisten ist fein gearbeitet, wie man das im Bregenzerwald gewohnt ist.
Die Gänge dienen der Erschließung und bieten gleichzeitig angenehme Aufenthaltsqualität.
Im Dachgeschoß vermietet der Besitzer vier Wohnungen. Man betritt sie von einem spektakulären Gang, der bis unter den Dachfirst reicht.
Auch das Haus ohne Heizung hat kleine Heizungen: Günstige Infrarotstrahler, wie man sie aus dem Baumarkt kennt, hier als Spiegel „getarnt“. In den Wohnungen werden sie nur an wenigen Tagen im Winter gebraucht. In den Behandlungszimmern häufiger, denn hier legt man seine Kleider ab.

Daten & Fakten

Objekt aks Lingenau

Bauherr aks gesundheit GmbH, Bregenz

Architektur Baumschlager Eberle Architekten, Lustenau, www.baumschlager-eberle.com

Statik Mader Flatz ZT, Bregen

Fachplanung Bauphysik: T.A.U., Lustenau; Elektro: Willi, Andelsbuch; Landschaft: Baumschlager Eberle

Planung 2016 – 2018

Ausführung 2018 – 2019

Grundstücksgröße: 1925 m²

Wohnnutzfläche 1934 m²

Keller 125 m²

Bauweise: Wände: porosierter Lochziegel mit hinterlüfteter Schindelfassade; Betondecken; Dach: Walmdach aus Ortbeton mit gedämmter Holzkonstruktion und hinterlüftetem Blechdach; Fenster: gesteuerte Holzfenster; Sonnenschutz: Fensterläden

Ausführung: Baumeister: Oberhauser & Schedler, Andelsbuch; Elektro: Willi, Andelsbuch; Sanitär: Christian Sohler, Lingenau; Zimmerer: Fetz, Egg; Dachdecker: Wild, Hittisau; Fenster: Tiefenthaler, Ludesch; Schlosser: Felder, Andelsbuch; Estrich: Ebner, Lustenau; Aufzug: Kone, Dornbirn; Bodenleger: Bischof, Hard; Fliesenleger: James, Riefensberg; Türen: Frick Burtscher, Dornbirn

Energiekennwert: 25 kWh/m² im Jahr (HWB)

Fotonachweis: S. 5 oben und unten, S. 6, S. 7 Nr. 2, 5: Eduard Hueber; alle übrigen: Jens Ellensohn