Im Sommer wird in Berlin das „Dokumentationszentrum Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ eröffnet: Marte.Marte Architekten aus Feldkirch hat
das Deutschlandhaus im Stadtteil Kreuzberg dazu umgestaltet.

Autor: Ulf Meyer | Fotos: Roland Horn

Die Vertriebenen-Verbände in (West-)Deutschland galten in den 1980er-Jahren als Hort von ewiggestrigem Denken, sogar Revanchismus und ihre politische Hofierung war für manchen ein Skandal. Mit der deutschen Wiedervereinigung kochte das Thema Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch vereinzelt hoch, es gab neue Realitäten und Generationen. Dennoch treibt das Thema viele Menschen um, und auch die aktuelle Flüchtlingspolitik ist ohne diesen historischen Hintergrund nicht zu verstehen. Im Sommer wird in Berlin das „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ eröffnet: Das Büro Marte.Marte Architekten aus Feldkirch hat das Deutschlandhaus in Berlin-Kreuzberg dazu umgestaltet.

Der Berliner Neubau liegt hinter den denkmalgeschützten Fassaden des „Deutschlandhauses“. Dieses Gebäude mit dem hochtrabenden Namen am Askanischen Platz wurde 1931 von Richard Bielenberg und Josef Moser gebaut und nach Kriegsschäden wiederhergestellt. Es wurde in der Ära Adenauer zur „Pflege der ostdeutschen Kultur“ bestimmt und einer Organisation der Heimatvertriebenen übergeben. Im Deutschlandhaus hatten die Landsmannschaften des Bundes der Vertriebenen ihre Büros – bis Ende 1999 ihre Förderung eingestellt wurde. „Schon im Wettbewerb zeigte sich, dass der Bestand des Deutschlandhauses als Ausstellungszentrum nicht funktionieren würde“, so Stefan Marte. „Wir wollten deshalb nur das Wertvollste am Bestand herausschälen.“

„Schon im Wettbewerb zeigte sich, dass der Bestand des Deutschlandhauses als Ausstellungszentrum nicht funktionieren würde. Wir wollten deshalb nur das Wertvollste am Bestand herausschälen.“

Stefan und Bernhard Marte
Architekten

Beim Entkernen des Altbaus sind die Architekten an die Grenzen der Tragfähigkeit gegangen. Eine Lichtfuge trennt den Bestand von der Erweiterung. Im Zentrum steht ein großer Saal mit zwei großen Fenstern, der einen Panoramablick auf das Zentrum von Berlin bietet – wenn die Ausstellung installiert ist, werden große schwarze Vorhänge die Fenster verschließen. Dann muss der Raum mit seiner Kargheit und Beton-Ästhetik wirken, die zum Thema des Museums passt. Die Gestaltung der Ausstellung übernahm das Atelier Brückner aus Stuttgart. Die Vorarlberger mussten eine Black Box für Dauer- und Wechselausstellungen entwerfen und um eine Bibliothek, Veranstaltungsräume sowie einen „Raum der Stille“ ergänzen, der von Königs Architekten aus Köln gestaltet wurde. Das Zeitzeugenarchiv räumlich und gestalterisch in den Ausstellungsparcours einzubinden, war der Direktorin des Hauses, der Historikerin Gundula Bavendamm, wichtig, damit aus ihrem Zentrum ein „Forum für Bildung und Vermittlung“ werden kann, wie sie es nennt.

Die Ausstellung wird aus drei Teilen bestehen, die sich über zwei Etagen erstrecken. Im ersten Obergeschoß wird das Thema „Das Jahrhundert der Flüchtlinge – Zwangsmigrationen in Europa“, im zweiten Obergeschoß werden „Flucht und Vertreibung der Deutschen im europäischen Kontext“ und „Vertriebene und Flüchtlinge in Deutschland seit 1945“ präsentiert. Bavendamm reiht die Themen ihres Hauses ein unter den gemeinsamen Nenner der „Europäischen Geschichte der Zwangsmigration“. Das Zentrum wird im Sommer eröffnet. Dann liegt der Vorarlberger Wettbewerbsgewinn bereits zehn Jahre zurück.
Weil Bernhard und Stefan Marte die Ausstellungsgestaltung nicht beeinflussen und ihr kein präzises Gehäuse schneidern konnten, legten sie ihr Augenmerk auf die Erschließung – sie haben zwei attraktive Treppen entworfen: eine breite Frei- und eine elegante Wendeltreppe. Bei Marte.Marte liegt die Haupttreppe im rechten Winkel zum Eingang – diese unorganische Besucherführung ist einer Umplanung des Eingangs geschuldet. Die monumentale Wendeltreppe führt fließend in den Betonzylinder, der die Etagen miteinander verbindet. Die tausend Quadratmeter große Ausstellungshalle hat ein imposantes Tragwerk. Ihr Hauptraum wird von einer gut 30 x 30 Meter großen Sichtbetondecke überspannt, die nur auf drei Treppenhäusern und einem Aufzugsschacht in den Ecken aufgelagert ist – wie ein Tisch auf vier Beinen.

Die Marte-Brüder sind international dafür bekannt nach einem skulpturalen Ausdruck in der Architektur und schweren, reduzierten Formen zu suchen. Das ist ihnen in Berlin meisterlich gelungen. Ebenso wichtig ist den Vorarlbergern der Kontext ihrer Entwürfe. Das urbane Umfeld dürfte sich im Falle des Berliner Dokumentationszentrums jedoch bald dramatisch verändern, wenn ein geplantes Ministeriums-Hochhaus nebenan die Fassaden wieder verdeckt.

Eine Baukulturgeschichte von
vai Vorarlberger Architektur Institut
Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg. Neben Ausstellungen (jetzt wieder geöffnet) und Veranstaltungen bietet das vai monatlich Führungen zu privaten, kommunalen und gewerblichen Bauten. Mehr auf www.v-a-i.at

Daten & Fakten

Objekt Stiftung Flucht Vertreibung Versöhnung, Berlin
Eigentümer/Bauherr BIMA – Bundesanstalt für Immobilienaufgaben
Architektur Marte.Marte Architekten, Feldkirch, www.marte-marte.com
Statik Ruffert und Partner, Berlin, www.ruffert-ingenieure.de
Fachplanung Technische Gebäudeausstattung: ZWP, Berlin; Bauphysik: Zernikau & Altmeyer, Berlin; Brandschutzplanung: Lenzenarchitekten, Berlin
Außenanlagen: Arge Annabau/Levandovski, Berlin
Planung 03/2012- 04/2020
Ausführung 01/2015- 04/2020
Grundstücksgröße 11.700 m²
Nutzfläche 7.200 m²
Bauweise Grundsanierter Bestand: Stahl, Skelettbau, Ziegelbauwerk, Stahl-Steindecke, Trockenbau; Neubau: Stahlbeton, Mauerwerk, Trockenbau
Ausführung Baumeister: Bleck und Söhne, Berlin;
Spengler: AC Ingenieurbau, Berlin;
Fassadenfenster: Metalltechnik Kuhle, Berlin;
Fassade WDVS: Asseto Bau, Berlin;
Holzfenster: Tischlerei A. Koch, Berlin;
Trockenbau: Spoma, Berlin
Energiekennwert 133,7 kWh/m² im Jahr
Baukosten 37.944.000 Euro