Nähert man sich dieser Tage dem Ort Kressbronn am Bodenseevon
der nördlich verlaufenden Bundesstraße, so taucht aus Obstplantagen
ein Zwiebelturm vor weiter, silberschimmernder Wasserfläche
mit den blauen Bergen des Säntismassivs
im Hintergrund auf.

Autor: Florian Aicher | Fotos: Brigida González

Der Föhn malt auf Goldgrund die Nähe zur Unendlichkeit“, schreibt der hier beheimatete Martin Walser. So bodenlos kann werden, was ganz sinnlich vorliegt: „Unsere Hügel sind harmlos. Der See ist ein Freund (…) Unsere sanften Wiesen führen überall hin. Kirschen, Äpfel, Trauben und Birnen reichen sich glänzend herum.“

Einst landwirtschaftliches Anwesen mit Bauernhaus und Ökonomie, heute Wohnhaus und Bibliothek; dahinter die neu gestaltete Grünanlage fast bis zur Kirche.
Die Rückseite des Stadels von der Grünanlage aus, die durch Abbruch von Nebengebäuden erweitert werden konnte.

Noch prägt das: Land der Obst-, Wein-, Hopfenbauern, freilich in stetem Wandel. Mitte des 19. Jahrhunderts war der Ort mit Schiffslände ein Hauptumschlagplatz für Oberschwabens Getreidelieferungen in die Schweiz, wurde zeitweilig wichtigster Viehmarkt, erlebte mit dem Bahnanschluss 1899 verstärkt den Zustrom erholungsuchender Städter, wurde 1919 mit der Bodan-Werft Industriestandort und erst 1937 aus dem Zusammenschluss dreier Orte zu Kressbronn. So wurde aus dem Bauerndorf eine Gemeinde mit sozial gemischter Bevölkerung, die sich alleine in den letzten 50 Jahren auf heute rund 8000 verdoppelt hat. Bei 10 km Entfernung zu den Städten Friedrichshafen und Lindau nimmt man längst am urbanen Lebensstil teil; dazu zählen Bildung, Kultur und – Architektur: Die neue Festhalle und die Umnutzung der Werft trugen dem Ort zwei Hugo-Häring-Preise ein – die höchste Architekturaus­zeichnung des Landes Baden-Württemberg. Die neue Bibliothek stärkt mit ihrem Standort nun die Ortsmitte. Der Weiterbau eines landwirtschaftlichen Gebäudes reflektiert die Ortsgeschichte; der Bildungsauftrag vertritt das neue Leitbild; höchste Ansprüche an Architektur reiht sie sich in die Preisträger ein.

Der neue Sockel aus Wärmedämmbeton mit der mächtigen Konstruktion des Dachwerks aus liegenden Bügen, Zangen und Pfetten.

Die 2018 eröffnete Bibliothek ersetzt Stallungen und Bergeräume eines großen Stadels, der selbst erst nach einem Brand im Jahr 1923 errichtet wurde. Das Erdgeschoß war einst gemauert, darüber erhob sich mehrgeschoßig ein mächtiger, gezimmerter Dachstuhl mit traufseitig weit auskragenden Dächern. Räumlich blieb es dabei, konstruktiv nicht – der gemauerte Sockel ist heute ein Betonbau. Der Dachstuhl wurde sorgfältig abgebaut, so weit möglich wieder aufgesetzt, wo nötig ergänzt und um eine Achse (8 m) verlängert.

„Was für ein Angebot für die Gemeinde,
die umliegenden Gemeinden und die Gäste
– 15.000 Medien in der Bibliothek
und dank ausgeklügelter Ausleihe
sogar bei Tag und Nacht verfügbar.“

Sigrid Kögler
Bibliotheksleiterin

Das Erdgeschoß beinhaltet Foyer, einen Mehrzweckraum, Nebenräume und Erschließung, eingeschlossen ein zweites Treppenhaus. Die Außenwände sind in wärmedämmendem Beton ausgeführt; große Öffnungen liegenden Formats sind festverglast mit kleinen Lüftungs­flügeln. Boden und Decke sind betoniert. Eine einläufige Treppe führt ins erste Obergeschoß, wo sich die Bibliothek raumhaltig entwickelt, unterbrochen nur durch den mittigen Erschließungskern und wenige Betonscheiben zur Abtrennung der Büroleitung. Auf diesen Einbauten liegt eine von Giebel zu Giebel durchgehende Galerie, ein U-förmiger Betonmonolith aus Decke und Brüstung, etwa 2 m von der Außenwand zurückgesetzt und mit der Brüstung in Höhe des inneren Dachansatzes. So wird der Raum der ehemaligen Tenne bis unter den First erlebbar.

Leseecke unterhalb der Galerie im Bibliotheksraum, der bis unter den First reicht; zwischen der Holzkonstruktion sind Bücherstellagen eingefügt.

Sämtliche Hölzer der Hauptkonstruktion des liegenden Stuhls mit Kniestock bleiben sichtbar – dunkelbraun und sägerau die alten, hell, scharfkantig und gehobelt die neu eingesetzten. Die Dachflächen sind unterhalb der Sparren mit weißen Schallschlucktafeln verkleidet. Auch die Konstruktion der aufgehenden traufseitigen Wände bleibt konsequent sichtbar, dazwischen weiße Bücherkabinette bzw. senkrechte Fensterschlitze. Die beiden Giebel erhielten eine neue Pfosten-Riegel-Konstruktion für eine raumhaltige Vorhangverglasung.

Auf der Galerie stirnseitig die ruhigen Lesebereiche vor den Glasgiebeln, vor direkter Sonne geschützt durch Holzlamellen.
Die einläufige Treppe hinauf zur Galerie macht den hellen Raum mit dem dunkelbraunen Holztragwerk zum Raumerlebnis.

Vor dem sichtbaren Tragwerk entwickeln sich Klimahülle und Sichtfassade. Die Holzverschalung des alten Stadels wird neu interpretiert: Die vertikale Verschalung aus kräftigen Bohlen stellt sich von liegender zu stehender Befestigung mit Zwischenschritten auf; ein einheitlicher Rhythmus von Auf- und Abschwellen zieht sich so ums ganze Haus. Hinter den stehenden Lamellen verbirgt sich die regelmäßige Verteilung der hochformatigen Fenster; die beiden Giebel zeigen ein freieres Bild vor der Komplettverglasung der Giebel. Nebenbei wird so der Sonnenschutz erledigt. Vor diesem Volumen entfalten die mächtigen Vordächer mit den Y-förmigen Bügen ihre Wirkung. Vier Meter tiefer Regenschutz zum Platz und zum neu gestalteten Park hinter dem Haus sind eindrucksvolle Gesten zum öffentlichen Raum.

Im betonierten Sockel teilen sich die Wege zum Mehrzweckraum und der Treppe zur Bibliothek im Dachraum.
Auf dem Weg zum WC liegende Fenster mit Festverglasung und kleinen geschlossenen Flügeln zur Lüftung.

Homogenität und konstruktiver Sinn schaffen eine Unaufgeregtheit, die den Bau heraushebt aus derzeitiger Architektur unbedingt gewollter Individualität. Welche Selbstverständlichkeit hat dieser Stadel! Ruhe geht auch von den Oberflächen und Farben der Baustoffe aus: natürliches Grau des Betons, ein helles Beige der Holzlamellen vor dem helleren, neuen oder dunkleren, alten Holz der Hauptkonstruktion, Einbaumöbel in weißgeölter Esche, weiß lackierte Bücherkabinette, weiße Schallschutztafeln im Dach – vom steinernen Grau zum lichten Weiß empor. So stellt die Bibliothek einen entschiedenen Beitrag dar zur Vergegenwärtigung des Bauens in einer lebendigen Gemeinde.

Bei Kressbronnern ein beliebter Platz für die morgendliche Lektüre der internationalen Presse. Heller Beton, kunststoffbeschichteter Boden und betonierter Aufzugskern in farblicher Übereinstimmung; grafisch differenziert dagegen die zurückliegenden Außenwände.

Daten & Fakten

Objekt Bücherei Kressbronn a. B. (D)

Bauherr Gemeinde Kressbronn a. B.

Architektur Steimle Architekten BDA, Stuttgart www.steimle-architekten.com

Statik Mader | Flatz Bregenz

Fachplanung Landschaftsarchitektur: Jetter, Stuttgart; Bauphysik: Bobran Ingenieure, Stuttgart

Planung 10/2015–1/2018

Ausführung 11/2016–8/2018

Fläche 860 m²

Bauweise Massive Außenwände aus Dämmbeton im Sockelgeschoß; Kerneinbauten aus Stahlbeton; Außenwände in Obergeschoßen Holzkonstruktion mit Lamellenschalung, in Vertikalachse unterschiedlich gedreht; historischer Dachstuhl des Stadels, Satteldach mit Ziegeldeckung; Holzfenster aus Weißtanne; giebelseitig Pfosten-Riegel-Fassaden aus Aluminium; Holzinnentüren mit oberflächlich astiger Eiche; Bodenbeläge mineralische Beschichtung; Heizung: Wärmepumpe mit Erdsonden; Lüftung mit Wärmerückgewinnung

Ausführung Rohbauer: Bohner, Tettnang (D); Zimmerer: Trautwein, Achberg-Esseratsweiler (D); Innenausbau: Achim Eisele, Engstingen (D); Möblierung: vitra, Stuttgart; Bibliotheksausstatter: Schulz Speyer, Speyer (D)

Baukosten 4,1 Mill. Euro

Energiekennwert 37 kW/m² im Jahr