Ein Haus will wachsen
Die beiden Bauherrinnen wollten auf keinen Fall neu bauen. Der alte Vetterhof, den sie bewohnten, aber war nicht mehr zu retten. Also überlegten sie gemeinsam mit Architektin Julia Kick, wie sich nachhaltig neu bauen ließe. Sie dachten dabei weit über die Grundgrenzen und Generationen hinaus. Was für ein visionäres Haus!
Text Isabella Marboe · Fotos Angela Lamprecht

Stolz und aufrecht ragt die kleine Sonnenblume aus der wilden Wiese, die sich um sie herum ausbreitet. Die Erde ist fruchtbar, das Dickicht wuchert üppig. Gut 120 Jahre stand hier im Lustenauer Rheindorf der Vetterhof. Im Nordwesten zieht auf der Bundesstraße 18 der gesamte Verkehr durch Lustenau, im Südosten verläuft der beschauliche Fischerbühel durch den Einfamilienhausteppich, der früher Landwirtschaftsfläche war.Den Vetterhof professionell zu betreiben, machte in diesem zersiedelten Areal keinen Sinn, der Bauer zog weiter, Architekt Roland Gnaiger plante ihm den neuen Hof, der in puncto Architektur und biologischer Landwirtschaft neue Standards setzte. Seine Schwestern Irmtraud und Elisabeth aber blieben im alten Vetterhof wohnen. Der wurde immer sanierungsbedürftiger, der Stall war längst desolat, mit dem Alter wurde die Barrierefreiheit immer mehr zum Thema.


Etwas musste geschehen, denn schwellenlos war hier gar nichts. Die zwei wollten nicht neu bauen und damit wertvollen Boden versiegeln. Sie kontaktierten Architektin Julia Kick, weil sie „auf Altbausanierung spezialisiert“ ist. Doch der alte Hof war bei aller Liebe nicht zu retten. Drei Parzellen weiter besaß die Familie am Fischerbühel noch Grundstücke mit Bauwidmung. Sowohl Architektin Julia Kick als auch die Bauherrinnen sind im Umgang mit den Ressourcen dieser Erde überdurchschnittlich achtsam.Deshalb entwickelten sie ein Wohnkonzept, das die zukünftige Notwendigkeit von Verdichtung mitdenkt. „Wir betrachteten die Grundstücke gesamthaft als zusammenhängende Grünfläche“, sagt Kick. Die Rede ist von vier Parzellen. Die ersten beiden Grundstücke grenzen direkt im Nordosten an den Fischerbühel, die zwei anderen schließen an deren südwestliche Grundgrenze gleichermaßen in zweiter Reihe an.

„„Wir sind davon ausgegangen, wie eine Siedlung für uns idealerweise aussehen könnte und haben haben die Grundstücke gesamthaft als zusammenhängende Grünfläche betrachtet.“
Julia Kick
Architektin

Das Haus der zwei Schwestern bildet nun den ersten Baustein von etwas, das künftig zu einer Art Gebäudefamilie anwachsen kann. Sie wussten genau, was sie wollten. Ein Haus aus Holz, „aber nicht alles sichtbar“. Außerdem musste es barrierefrei sein, als Referenz an den alten Vetterhof ein geneigtes Pultdach und eine einläufige Stiege haben. „Dann kommen die Sanitäter besser hinauf.“ Lisi und Traudi wissen, wovon sie sprechen: Sie waren lange als Anästhesieschwestern im Notdienst tätig. Julia Kick entwarf ihnen ein Haus, das U-förmig einen Innenhof einfasst. Es besteht im Prinzip aus einer Tragstruktur von Fichtenholzstützen in einem Achsraster von 1,25 Metern, die mit den Deckenbalken einen Rahmen bilden. Dieses konstruktive Gerüst kann je nach Bedarf mit Fenstern, Fenstertüren, Wänden ausgefacht werden oder offen bleiben. Statisch ist es so ausgelegt, dass es ein weiteres Wohn- und ein ausgebautes Dachgeschoß aufnehmen kann.

Entlang des Fischerbühels verläuft gleichermaßen der Wirtschaftstrakt. Fünf Meter breit, an die zwanzig Meter lang, ein Geschoß hoch, nimmt diese einfache Struktur ein Lager für Vorräte, Geräte und die Garage auf. Quer dazu schließt L-förmig der Wohntrakt an. Gemeinsam bilden sie das U, das den Hof einfasst. Man betritt das Haus am Ende des südwestlichen Traktes. Freundlich empfängt einen die Pergola, die vor der rollstuhlgerechten Eingangstür einen schattigen Freibereich ausbildet. Das Herz des Wohnens schlägt in der Küche mit der Eckbank und dem großen, fast quadratischen Herdblock. Julia Kick hat ihn geplant, der Tisch ist aus einem alten Nußbaum im Garten, die Küche semiprofessionell. Die Schwestern kochen nämlich leidenschaftlich gern für möglichst viele Gäste.


Von hier führt die einläufige Treppe in den kleineren Wohnraum mit der chilligen Couch. Sie ist dafür da, dass eine der beiden auch für sich sein kann. Am meisten aber nutzen sie die Kinder der Verwandtschaft. Dieser erste Stock ist kleiner als das Erdgeschoß. Das entspricht der Architektin und ihrer Baufrauenschaft: Nicht mehr als nötig, das dafür umso durchdachter. Die Apfel- und Birnbäume der Streuobstwiese, die sich im Südwesten vor dem Haus ausbreitet, sind über hundert Jahre alt. Das Gras wird von Ziegen und Schafen eines Bauern aus dem Ort gemäht. „Die Kinder wollen sie immer streicheln, die werden alle zu spät in die Schule kommen“, sagt Traudi besorgt. Im Hof gedeiht ein paradiesischer Garten. Stolz reckt die Goldmelisse ihre roten, fransigen Blüten in die Sonne. Sie steht nicht auf Brachland, sondern ist eine unter vielen blühenden Pflanzen dieses Hofs, der in die Landschaft ausfließt, bis ihn künftig das Haus gegenüber einfassen wird. Auf der gemeinsamen Zufahrt blüht schon Mohn.

Eine Baukulturgeschichte von VAI.
Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg.
Es bietet Ausstellungen, Veranstaltungen und Führungen zu diversen Bauten. Mehr Infos auf www.v-a-i.at
Einfamilienhaus Rheindorf
Bauleute: Elisabeth und Irmtraud Vetter
Architektur und Bauleitung: Julia Kick, www.juliakick.com
Statik: Bmstr. DI(FH) Martin Fetz
Planungsbeginn: Februar 2022
Ausführung: Jänner – Dezember 2023
Grundstück: 595 m²
Nettogeschoßfläche: 170 m²
Bruttogeschoßfläche: 244m²
Energiekennwert: 39 kWh/m²a
Photovoltaikfläche: 35 m²
Geotechnisches Gutachten: 3P Geotechnik West ZT GmbH
Bauökologie: Ökoberatung Gebhard Bertsch