Das französische Bildungssystem unterscheidet sich vom österreichischen in vielerlei Hinsicht, was sich auch auf die Schulgebäude auswirkt. Aus beiden Welten das Beste vereint wurde beim Collège Simone Veil in Lamballe. Für das Architekturbüro Dietrich | Untertrifaller aus Vorarlberg und Colas Durand Architectes ist es bereits
die zweite Kooperation. Viel Holz und ausgiebig Tageslicht sind die wichtigsten
Ingredienzen der Schule, in der Inklusion einen hohen Stellenwert hat.

Autorin: Franziska Leeb | Fotos: Luc Boegly

Viel mehr als ein Collège!“ heißt es im Brustton der Überzeugung auf der Website der Schule, die im Norden des bretonischen Städtchens Lamballe einen neuen Standort fand. Das größte öffentliche Collège im Departement Côtes-d’Armor ist nach dem 2015 eröffneten Collège Jean Monnet im 30 Kilometer entfernten Broons die zweite Kooperation des in Vorarlberg gegründeten Büros Dietrich | Untertrifaller mit dem bretonischen Büro Colas Durand Architectes.

Sie reagierten auf die von Hecken und Feldern geprägten typischen Bocage-Landschaft mit einem Betonsockel, der – sich als Kreissegmentbogen zur Stadt öffnend – die Freiflächen vom Verkehr und den Winden abschottet. Im Schenkel an der Eingangsseite liegt ein Mehrzweckraum, im anderen das Schulrestaurant, dazwischen Administration, Räume für freies Arbeiten, Sanitäreinrichtungen und Garderoben. Darüber wurde der zweigeschoßige Klassentrakt in Holz errichtet.

„Es gelang uns, das streng normierte
Raumprogramm französischer Schulen exakt umzusetzen
und dennoch für räumliche Großzügigkeit und gewisse Extras zu sorgen.“

Much Untertrifaller
Architekt

Gemeinsame Ganztagsschule bis zur neunten Stufe

Das französische Bildungssystem unterscheidet sich von unserem – und das drückt sich auch an den Schulgebäuden aus: Nach der Grundschule ist das Collège die vierjährige Mittelschule für alle. Erst danach trennen sich die Wege Richtung Gymnasium oder eine andere Ausbildung. Seit den 1970er-Jahren gibt es diese Form der Gesamtschule, Ganztagsschulen waren schon im 19. Jahrhundert Usus. Ins Auge stechen hierzulande unbekannte Details: so die nummerierten Bodenmarkierungen im Freien – der klassenweise Versammlungsort, um gemeinsam mit den Pädagoginnen und Pädagogen zu den Unterrichtsräumen zu gehen. Daher ist ein „préau“, ein überdachter Hofbereich, Bestandteil jeder Schule. In Lamballe liegt er im Kreisbogen, unter dem darüber auskragenden Holzbau.
Sicherheit und Kontrolle spielen eine große Rolle. Jeder Klassenraum hat zwei Eingänge, Toiletten befinden sich nur in der Nähe des Speisesaals. Themen wie Klassencluster und multifunktionale Zonen spielen in der französischen Schulbaukultur noch kaum eine Rolle.

Viel Raum, Licht und Holz

Trotz rigider Vorgaben waren den Architekten (Projektleitung: Gerhard Pfeiler und Christina Kimmerle) großzügige, helle Zonen für Kommunikation und Aufenthalt wesentlich, wie Much Untertrifaller ausführt. Sie fielen wahrlich generös aus. Galerien und Brücken fügen sich in der dreigeschoßigen zentralen Halle zu einem Erlebnisraum – von oben, den Stirnseiten und durch die inneren Fenster der Klassen von Tageslicht durchflutet. Die Fassadenstruktur sorgt für Eigenverschattung und lenkt den Blick in die Umgebung. Selbstredend sorgt ein effizientes Energiekonzept für ein behagliches Raumklima; Regenwasser wird für die Sanitäranlagen verwendet. Robust in seiner Konstitution und doch warm in der Atmosphäre ist das Gebäude für 800 Schülerinnen und Schüler.

Das pädagogische Konzept hat im Collège auf inhomogene Bedürfnisse einzugehen. In sogenannten SEGPA-Klassen erhalten Jugendliche mit Lernschwierigkeiten allgemeine wie vorberufliche Bildung und Alltagskompetenzen, zudem werden in Lamballe behinderte Kinder besonders gefördert. Diese Vielfalt zu einem Reichtum machen, lautet das Ziel der Direktion, die sich darin vom Ambiente der Schule unterstützt fühlt und das Gebäude selbst zum Unterrichtsgegenstand macht.

Architekturkritik im Unterricht

Die gemeinsam gepflanzte Mischhecke an der Rückseite der Schule war nicht nur ein gestalterischer Akt, sondern lieferte auch Wissen über Biodiversität. Bewusstsein für Raumqualitäten schuf die Befassung mit dem alten Schulhaus und dem neuen. Dunkel und kalt empfanden sie die Räumlichkeiten im alten, einem ehemaligen Kloster mit Zubauten aus den 1960er-Jahren. Akustik, Licht, das viele Grün und die angenehmen Materialen schätzen sie am neuen. Einziger Kritikpunkt: Die gläserne Vorhangfassade im Erdgeschoß hat keine Fensterbänke zum Hinsetzen.

Die Namenspatronin dieser und vieler anderen französischen Schulen ist die Politikerin, Frauenrechtlerin und große Europäerin Simone Veil (1927-2017). „Man kann ein Kind nie zu sehr verwöhnen“, sagte sie einst. Ein wichtiges Leitmotiv bei der Konzeption von Bildungsbauten!

Eine Baukulturgeschichte von
vai Vorarlberger Architektur Institut
Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg. Neben Ausstellungen und Veranstaltungen bietet das vai monatlich öffentliche Führungen zu privaten, kommunalen und gewerblichen Bauten. Mehr unter Architektur vor Ort auf www.v-a-i.at

Daten & Fakten

Objekt Collège Simone Veil, Lamballe (FR)
Bauherr Département Côtes d’Armor
Architektur Dietrich | Untertrifaller mit Colas Durand, www.dietrich.untertrifaller.com
Statik Espace Ingénierie, Saint-Brieuc und QSB, Lannion
Fachplanung Haustechnik, Bauphysik: Thalem, Bruz;
Kosten: M2C, Lamballe; Akustik: Acoustibel, Chavanne
Planung 09/2015-09/2016
Ausführung 09/2016- 04/2018
Grundstück 19.400 m²
Nutzfläche 8377 m²
Bauweise Stahlbeton im Erdgeschoß, darüber Holzmischbauweise; Fassade Douglasie; Fenster und Türen aus Holz; Festmontierter und beweglicher Sonnenschutz außen
Besonderheiten Auszeichnung Architekturpreis der Bretagne 2020; Ökologie: Label Effinergie+
Ausführung Holzbau: Renault Menuiserie, Lamballe
Energiekennwert 44,2 kWh/m² im Jahr (HWB)
Baukosten 13 Mill. Euro