Der Kindergarten als Dorf
Der neue Kindergarten von Primisweiler liegt inmitten von Feldern am Ortsrand.
Die Architekten Feuerstein Hammer Pfeiffer konzipierten ihn als Dorf.
Für jede Gruppe ein kleines Holzhaus mit asymmetrischem Satteldach,
die sich leicht gegeneinander versetzt an einer Art Dorfstraße in der Mitte
lose aneinanderreihen. Dieser gemeinsame Raum für alle eignet sich als
Eingangsfoyer, Speisesaal, zum Spielen, Toben und für Abendveranstaltungen.
Denn der Kindergarten ist auch ein Familienzentrum.
Autorin: Isabella Marboe | Fotos: Luis Tamaya
Primisweiler ist ein Dorf bei Wangen im Allgäu. Etwa 3000 Menschen leben hier, der bestehende Kindergarten war zu klein, es brauchte einen neuen. Er liegt nun etwas hinter Grundschule und Sporthalle, mit der er sich die Parkplätze teilt. Hier ist an der nordöstlichen Stirnseite des Kindergartens der Eingang. Die Architekten Feuerstein Hammer Pfeiffer schoben ihn achtsam hinter die Fluchtlinie. So entsteht eine witterungsgeschützte Nische in der dunklen Fassade. Der Vorplatz ist mit Bäumen, Sichtbetonbank und Fahrradständern gestaltet. „Wenn der Eingang nicht stimmig ist, tut sich das Haus schwer, eine angemessene Geste zu setzen“, sagt Architekt Gerhard Feuerstein.
Ab dem Parkplatz ist die Straße nur noch für landwirtschaftlichen Verkehr zugelassen, die Kinder können ungefährdet übers Feld bis zum Mitten- oder Blausee laufen. Im Nordwesten breitet sich ein Fußballfeld aus, an das im Süden eine sattgrüne Wiese mit freilaufenden Hühnern anschließt. Im Westen übernimmt die Ortschaft: Einfamilienhäuser mit Satteldächern an mäßig befahrenen Straßen, dazwischen die Grundschule. Die Architekten verdichteten die örtliche Typologie zum Kindergarten. Er ist so etwas wie ein Dorf nach Maß für kleine Menschen zwischen ein und sechs Jahren.
„Wir wollten nicht kindisch, sondern kindgerecht bauen.
Die Architektur sollte Großzügigkeit erzeugen,
die Heimeligkeit vom Material kommen.“
Gerhard Feuerstein
Architekt
Jede der vier Gruppen ist mit einem asymmetrischen Satteldach als eigenes Häuschen gestaltet. Jedes ist aus Holz und hat einen quadratischen Grundriss von etwa 13 x 13 Metern. Darüber steigt das Dach von seiner Traufhöhe von 2,75 Meter bis zum First auf 5,50 Meter an. Das entspricht dem Verhältnis 1:2 und wirkt sehr luftig.
Der Gruppenraum ist ganz mit Weißtanne ausgekleidet, der Boden aus Eiche, große Fenster mit niederen Brüstungen, auf denen Kinder bequem sitzen und schauen können, holen die Landschaft herein. Jeder Gruppenraum hat auch eine introvertiertere Rückzugsnische, gemeinsam nehmen sie etwa die halbe Fläche über die gesamte Seitenlänge ein und ragen zur Gänze in den Garten. Jeder Gruppenraum hat mindestens zwei Öffnungen ins Freie, jeder ist ein Unikat mit unterschiedlichen Ausblicken. Das erleichtert Kindern die Orientierung.
Die zweite Hälfte der Fläche teilen sich Garderobe, Sanitäreinheiten und ein Ruheraum zum Schlafen. Die Gruppenhäuschen sind paarweise gegeneinander versetzt – zwei im Südosten, zwei im Nordwesten – an einem durchgehenden Raum angeordnet. Mit seinem geschliffenen Estrich am Boden bildet er gleichermaßen die Dorfstraße. Robust und fußbodenbeheizt, zieht er sich als großzügige Bewegungsfläche fast 50 Meter lang durch das Haus. Er beginnt als Foyer, an das rechts das Büro der Kindergartenleitung und die Sozialräume anschließen, zwischen den ersten zwei Gruppen dockt links der Speisesaal an, dann schräg gegenüber hinter Glas der Forschungsbereich für die kindliche Erkundung von Naturphänomenen und eine Werkstatt, am Ende der Straße liegt der Bewegungsraum.
Viel Achtsamkeit und Einfühlungsvermögen in die Lebenswelt von Kindern prägt die Planung. „Wir wollten nicht kindisch, sondern kindgerecht bauen. Die Architektur sollte Großzügigkeit erzeugen, die Heimeligkeit vom Material kommen“, sagt Feuerstein. „Die Kindergartenleitung bestärkte uns in dieser Haltung.“ Fast alle Möbel sind von den Architekten entworfen und vom Tischler gebaut. Für jede Schlafmatratze gibt es ein eigenes Fach, jede Garderobe zweigt in eine gartennahe Matschgarderobe ab, es gibt ausgetüftelte Kastenwandsysteme. „Wir haben keinen cm2 Platz verschenkt“, sagt Feuerstein.
Es gibt drei Gruppen mit je 22 Kindern zwischen drei und sechs Jahren, sowie eine Krippengruppe mit zehn Kleinkindern von eins bis drei, insgesamt 22 Personen – Erzieher(innen), Erlebnispädagog(innen), Hauswirtschaftslohnkräfte – arbeiten hier. „Kinder haben heute viel zu viele Eindrücke auf einmal zu verarbeiten“, sagt Ulrike Heiling, die Leiterin von Kindergarten und -krippe. Sie schätzt den Purismus des Kindergartens sehr. „Es sind gefühlt nie 80 Kinder da, die Grundatmosphäre ist immer ruhig und entspannt.“ Der Kindergarten ist von 7.15 bis 15.30 Uhr geöffnet, abends gibt es Bildungsveranstaltungen für Eltern, Yoga-Workshops und mehr. „Wir sind auch ein Familienzentrum“, verweist Heiling auf eine wesentliche Funktion. „Jeder fühlt sich wohl. Die Kinder kommen gern, die Familien kommen gern, die Mitarbeitenden kommen gern.“
Eine Baukulturgeschichte von
vai Vorarlberger Architektur Institut
Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg. Neben Ausstellungen und Veranstaltungen bietet das vai monatlich öffentliche Führungen zu privaten, kommunalen und gewerblichen Bauten. Mehr unter Architektur vor Ort auf www.v-a-i.at
Daten & Fakten
Objekt Kindertagesstätte und Familienzentrum St. Raphael, Wangen-Primisweiler
Bauherr Stadt Wangen im Allgäu
Nutzer Kita St. Raphael, Leitung: Ulrike Heiling
Architektur Feuerstein Hammer Pfeiffer Architekten; www.fhp-architekten.de
Statik merz kley partner, Dornbirn; www.mkp-ing.com
Landschaftsarchitektur Martin Kappler, Wangen; https://kappler-landschaftsarchitektur.de
Fachplanung Bauleitung: Flatschacher, Dornbirn; Heizung, Lüftung, Sanitär: Vogt & Feist, Ravensburg; Elektro: Lorentz, Ravensburg; Brandschutz: Anwander, Sulzberg; Akustik: bau8sam, Ravensburg; Bauphysik: Herz & Lang, Weitnau
Planung 2017–2019
Ausführung 2019–2020
Grundstücksgröße 3709 m²
Nutzfläche 1005 m²
Bauweise Holzständerbau; Low-Tech-Gebäude
Ausführung Baumeister: Lehnert, Heimenkirch; Holzbau: Maier, Wangen; Dach: Holl, Ravensburg; Lüftung: Dieing, Argenbühl; Heizung, Sanitär: Wahl, Wangen; Elektro: Stehle, Neukirch; Landschaftsbau: Börner, Lindau; Fenster: Stocker, Uttenweiler; Schreiner: Riedle, Leutkirch; Türen: Holitsch, Tettnang; Estrich: Alma, Berg; Parkett: Mauz, Immenstaad; Trockenbau: Bochtler, Ingoldingen; Maler: Ebert, Wangen
Energiekennwert 15 kWh/m² im Jahr
Baukosten 2,4 Mill. Euro