Zunächst scheint das Quartier um den Stapfenwisweg im schweizerischen Rheineck nicht weiter speziell.
Wie auch in vielen Vorarlberger Orten stehen Einfamilienhäuser in Reih und Glied
und sind kaum voneinander zu unterscheiden. Ganz hinten in der Sackgasse erspäht
der Passant aber ein Haus, das auffällt: Statt eines umzäunten Vorgartens nur eine
kleine Auffahrt, die industrielle Fassade verrät nicht, was dahinter vor sich geht.

Autorin: Isabella Marboe | Fotos: Joshua Loher

Vor einigen Jahren erschlossen neue Quartierstraßen das Areal. Ohne Freiraumplanung oder Gestaltungsvorgaben sproß seither ein Häuschen nach dem anderen hervor. „Eine verpasste Chance“, murmelt Thomas Nüesch von Hutter Nüesch Architekten neben mir schlendernd. Ein gemeinsames Zentrum zum Beispiel hätte nicht nur zur Atmosphäre des gesamten Quartiers beigetragen, sondern auch die Kosten der einzelnen Häuser gesenkt.

Verkehrt Rückseitig führt eine Treppe auf den kleinen Gartensitzplatz – wo der Blick auf die umliegenden Hügel statt auf Nachbars Rasenmäher fällt.
Zum Quartier öffnet sich das Haus nur wenig: Die Bandfenster verraten nicht, wo gewohnt, gekocht oder geschlafen wird.
Hochwassergeschützt auf einem Betonsockel steht das Haus, zur Zufahrtsseite spielen Stützen einen Autounterstand frei, dahinter liegt um einige Stufen erhöht der Eingang.

Da an der Situation nunmal nichts zu ändern war, beschäftigten sich die Architekten mit einer schwierigen Frage: „Wie behandelt man eine Umgebung, die man so nicht weiterbauen will?“ Ihre radikale Antwort: Sie empfehlen der Familie Kühnis den Kauf der hintersten Parzelle und wenden sich städtebaulich wie architektonisch vom Quartier ab. Auf den ersten Blick erscheint der Baukörper wie ein von Kinderhand gezeichnetes Häuschen – jedes Detail vereinfacht, es gibt weder Dachvorsprung noch Regenrinnen. Der gewellte Faserzement legt sich wie ein Kleid ums Haus, die Schraubenreihen erinnern an Nähte. Das Wasser läuft in den Senkungen der Fassadenverkleidung herab, die immer dunkler werdende Patina macht das Material lebendig.

Hoch überm Stapfenwisweg bietet die ins Volumen integrierte Dachterrasse eine kleine private Oase zum Verweilen.

Zum Schutz vor Hochwasser erhöhen die meisten Nachbarn ihren Baugrund mit einer Böschung um einen Meter. Aus Respekt vor dem gewachsenen Gelände entscheiden sich die Architekten dagegen und heben stattdessen das komplett aus Holz gebaute Haus auf einen Betonsockel. Zur Zufahrtsseite spielen Stützen einen Autounterstand frei, dahinter liegt der um einige Stufen erhöhte Eingang. Dort offenbart sich die Konstruktion des Hauses, ein Ständerbau. Aussparungen in der Fassade spenden außerdem natürliches Licht.

„Statt ebenerdig mit großem,
vorgelagerten Garten zu wohnen, verschiebt sich der
Lebensmittelpunkt der Familie in das dritte Obergeschoß.“

Thomas Nüesch
Architekt

Die an Le Corbusier orientierte Geste stellt das uns vertraute Layout eines Einfamilienhauses auf den Kopf: Statt ebenerdig mit großem vorgelagerten Garten zu wohnen, verschiebt sich der Lebensmittelpunkt der Familie in das dritte Obergeschoß. Im Hochparterre reihen sich hinter dem Eingang der Treppenkern, die Waschküche, ein Büro und zuletzt der Zugang zum kleinen Garten auf der Rückseite. „Mit Blick zur schöneren Umgebung“, bemerkt Thomas Nüesch schmunzelnd. Im Schatten der großen Birken bieten die betonierten Bänke ein lauschiges Plätzchen zum Verweilen.

Das lichtdurchflutete Esszimmer bildet das Herz des Hauses.
Belichtet wird der im Hochparterre gelegene Eingang mittels Aussparungen im gewellten Faserzement.

Ein halbes Stockwerk weiter oben liegen die vier gleich großen Schlafzimmer und das Badezimmer. Eine Schrankschicht im Gang bietet viel Stauraum, darunter verteilt ein horizontaler Schacht die Leitungen durchs ganze Stockwerk. Einige Stufen weiter hinauf erreicht die Besucherin das Wohngeschoß: Zur Rechten liegt ein alkovenartiges Wohnzimmer mit Weitblick über die nahen Rebhänge, zur Linken eine offene Küche mit Esszimmer – das wortwörtliche Herz des Hauses. Das angenehme Gefühl einer Holzstube erreicht in diesem Raum seinen Höhepunkt. Hier oben, statt wie üblich im Erdgeschoß zu wohnen, sei aber nach wie vor gewöhnungsbedürftig.

Mit eingebauten Möbeln gingen die Architekten auf die individuellen Wünsche der Bauherren ein.
Für anspruchsvolle Elemente wie Küche und Bad nutzten die Architekten Ahorn statt Fichte.

„Manchmal fehlt mir schon das Erdverbundene“, gesteht die Bauherrin, als wir uns in der Küche niederlassen. Die Dachterrasse mache dies aber wieder wett; die letzten Stufen emporsteigend erreichen wir den geschickt in das Gesamt-Volumen integrierten Außenraum. Die Ständer der Fassade reichen bis auf Augenhöhe und verhindern so ungewollte Blickverbindungen zu den Nachbarn. Eine Sauna, zwei frei nutzbare Räume und eine Außendusche verwandeln ihn in eine kleine private Oase hoch überm Geschehen des Stapfenwiswegs. Das industrielle Äußere entspreche nicht jedem, erklärt Frau Kühnis lachend. Ihr gefällt es, in einem unverwechselbaren Haus zu wohnen. „Beim Betreten staunen unsere Gäste aber nicht schlecht.“ Das gut riechende Holz, der einfache Grundriss und die geschickt gesetzten Öffnungen erzeugen eine Wohlfühlatmosphäre. Das Haus überzeugt: Vom Sockel bis unters Dach schafft es unterschiedliche Raumqualitäten und bietet jene Geborgenheit, von der wohl alle im eigenen Heim träumen. Großes Potenzial liegt dabei im Layout, das mit ähnlichem Ansatz auch im verdichteten Siedlungsbau denkbar wäre.

Ein schmaler Gang entlang den Bandfenstern trennt Essen und Wohnen und macht eine Tür dazwischen unnötig.
Wie ein Alkoven aus Holz lädt das Wohnzimmer zum Entspannen ein.

Daten & Fakten

Objekt Haus Kühnis, Rheineck

Bauherren Petra und Daniel Kühnis

Architektur Hutter Nüesch Architekten, Berneck www.hn-architekten.ch

Statik NF-Engineering, Diepoldsau, www.holztragwerke.com

Fachplanung Bauingenieur: Bänziger Partner, Oberriet: Fassade und Dach: Gautschi, St. Margrethen

Ausführung 2015/2016

Grundstücksgröße 543 m²

Nutzfläche 120 m²

Bauweise Massivholzbauweise: Ständerbau mit Schwalbenschwanzverbindungen aus Fichte; mit Holzfaserdämmplatten ausgefacht, an der Außenseite zusätzlich überdämmt; Böden, Wände und Decken mit Blockhausbohlen verkleidet; Tragkonstruktion und Bekleidung aus Fichte, stark beanspruchte Elemente aus Ahorn. Fassaden- und Dachmaterial: Faserzementwellplatten, naturgrau und unbeschichtet

Ausführung Holzbau, Fenster, Fassaden und Dacheindeckung: Gautschi, St. Margrethen