Der 1968 fertiggestellte Nordbau der Kunsthochschule in Kassel von
Paul Friedrich Posenenske ist eines der markantesten Hochschulgebäude
Deutschlands. Mit dem von Innauer Matt entworfenen Kunstraum
erhielt der denkmalgeschützte Komplex eine würdige Erweiterung.
Für die Studierenden entstand ein unkonventioneller Ausstellungsort,
der zu innovativen Präsentationen einlädt.

 

Text: Diana Artus | Fotos: Nicolas Wefers

Wer in Kassel durch die Karlsaue schlendert, steht bald vor der hiesigen Kunsthochschule, einem avantgardistischen Betonbau mit großer Fensterfront, überragt von einem schwarzen Stahlskelett. Park und Campus gehen nahtlos ineinander über, und es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, wie in diesem lichten und entspannten Raumgefüge Kunst entsteht. Entworfen wurde es in den 1960er-Jahren von Paul Friedrich Posenenske (1919–2004), der hier den Aufbruchsgeist der Nachkriegsmoderne in eine bis heute überzeugende Form übersetzte. Nun hat das Ensemble Zuwachs bekommen: Im großen Hof zwischen zentralem Bibliotheksgebäude und den Flügeln des Atelierhauses, wo schon Posenenske eine mögliche Erweiterung vorgesehen hatte, ragt ein dunkler Holzquader empor. Er beherbergt die neue Ausstellungshalle der Hochschule und wurde von den Innauer Matt Architekten geplant, die mit ihrem Entwurf den 2017 durchgeführten Wettbewerb gewannen.

Für das Bezauer Büro war es nicht nur der erste große Bau für Kunstschaffende, sondern auch ein Kontext, der mit starker Präsenz und Eigenwilligkeit herausforderte. Ziel sei es gewesen, einen Baukörper zu entwerfen, der sich stimmig in den denkmalgeschützten Komplex einfügt, zugleich aber auch ein Alleinstellungsmerkmal hat, erklärt Markus Innauer. Mit sichtbarem Tragwerk und schwarzer Farbgebung nimmt der Neubau Bezug auf die charakteristische Stahlkonstruktion des Bestands. Hinzu kommt eine demokratische Raumstruktur: Das mittig in den Hof gesetzte Volumen hat keine Rückseite, sondern kann über große Türen zu allen vier Seiten gleichermaßen kommunikativ geöffnet werden. Außenräume mit unterschiedlichem Charakter – sei es der großzügige Vorplatz oder ein intimer Grünraum mit Bäumen, die Joseph Beuys in den 1980er-Jahren als künstlerischen Beitrag für die Documenta pflanzte – sind als flexibel bespielbare Open-Air-Bereiche nutzbar und erweitern die Ausstellungsfläche ins Freie. Es hat eine regelrecht klösterlich-kontemplative Anmutung, wie der einer geheimnisvollen Schatulle gleichende Bau dabei vom Laubengang des Bestands gerahmt wird. Und eine große Selbstverständlichkeit, die davon zeugt, dass der Dialog mit der vorhandenen Architekturgeglückt ist.

„Der Posenenske-Bau überzeugt durch klare Strukturen und eine rohe und direkte
Materialisierung. Diese Themen haben wir aufgegriffen und in die
neue Ausstellungshalle übersetzt.“

Markus Innauer, Architekt

Was das Alleinstellungsmerkmal betrifft, so wurde auch dieses Ziel auf subtile Weise erreicht: Zum einen setzt sich der Neubau durch seine hölzerne Materialität klar von den Betongebäuden ab. Zum anderen werden seine fensterlosen Fassaden von rasterförmig angeordneten runden Glaselementen geprägt, die geradezu skulptural und damit identitätsstiftend wirken. 864 gewölbte Linsen sind es, die in Zusammenarbeit mit dem Bregenzer Betrieb Glas Marte eigens für das Projekt konzipiert wurden. „Wir waren auf der Suche nach einer Lösung, die über den Tagesverlauf diffuses Licht in den Innenraum führt und somit unterschiedliche Stimmungen zulässt.

Gleichzeitig sollte die Fassade eine gewisse Plastizität erfahren“, erzählt Markus Innauer über die Ideenfindung. Höchste Zeit, einen Blick in das Innere zu werfen. Es besteht aus einem einzigen, rund 450 Quadratmeter großen Raum, der von naturbelassenen Holzoberflächen dominiert wird. Mithilfe von an Deckenschienen laufenden Schiebewänden lässt er sich flexibel unterteilen, zum Beispiel in drei vollständig voneinander getrennte Einheiten. Dies ermöglicht unterschiedliche Nutzungen. Sind alle Wandelemente in einer Ecke zusammengeschoben, kann der Blick frei schweifen. Aber Moment – braucht ein Ausstellungsraum nicht gerade möglichst viele stabile, neutrale Wände? Das mögen sich auch die Studierenden anfangs gefragt haben, die in der Halle ihre Arbeiten öffentlich ausstellen.

Doch soll diese eben kein herkömmlicher „White Cube“ sein, sondern Experimentierfeld und Produktionsort. Form und Materialität ihrer Architektur laden zu kreativer Auseinandersetzung und installativen Formaten ein. Mittlerweile gibt es bereits eine Vielzahl überraschender Displaysysteme, die Studierende für den Raum entwickelt haben. Dass er gut funktioniert, zeigte sich schon kurz nach seiner Eröffnung im Sommer 2022, als zufällig vorbeiflanierendes Publikum der Documenta die hier präsentierte Schau für einen offiziellen Teil derselben hielt.

Eine Baukulturgeschichte von vai Vorarlberger Architektur Institut Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg. Neben Ausstellungen und Veranstaltungen bietet das vai monatlich öffentliche Führungen zu privaten, kommunalen und gewerblichen Bauten. Mehr unter Architektur vor Ort auf www.v-a-i.at

Daten und Fakten

Objekt Kunstraum Kassel, Kassel
Bauherr Universität Kassel
Architektur Innauer Matt Architekten, Bezau, www.innauer-matt.com
Statik Merz Kley Partner ZT, Dornbirn, www.mkp-ing.com
Fachplanung Bauleitung: pape + pape/EHS, Kassel; Heizung, Sanitär, Lüftung: PPC, Melsungen; Elektro: kbi, Göttingen; Bauphysik: DI Günter Meusburger, Schwarzenberg; Landschaft: Schöne Aussichten, Kassel; Licht: Manfred Remm, Dornbirn; Lichtlinsen: Glas Marte, Bregenz
Planung 06/17–10/21
Ausführung 07/20–02/22
Nutzfläche 450 m² (Ausstellungsfläche)
Bauweise Vorgefertigter konstruktiver Holzbau, sichtbare Massivholzkonstruktion, unbehandelt; Verkleidungen rohe Fichte; Deckenverkleidungen Holzwollplatten; Fassade: sägerauer Lärchenschirm und Zinkblech; Heizung: Fernwärme über Fußböden
Ausführung Baumeister: Märkl, Wingerode; Zimmerer: I+R Holzbau, Lauterach; Spengler: Schumann, Lohfelden; Fenster: Wiegand, Holzhausen; Trennwände: Hufcor, Dessau; Innenausbau: Hermann Schubert, Wettringen
Energiekennwert 43 kWh/m² im Jahr (HWB)
Baukosten 4 Mill. Euro