Nun ist sie doch wieder da: die Zeit, die uns für Monate manch vertraute Plätze raubt, unter Schnee begräbt und in Orte verwandelt, die Fuchs und Hase vorbehalten sind und manchmal dem Jäger auf seinem Ranger beim Wildfüttern.

Autor: Florian Aicher | Fotos: Petra Steiner | Karlheinz Gasser

So ist’s auf dem Wirmboden, einem schmalen Plateau 200 m über dem Talboden der Bregenzerach unterhalb der Kanisfluh – unzugänglich wegen stabiler Tiefschneeverhältnisse, vor allem aber wegen unkalkulierbarer Lawinenabgänge von der fast senkrecht aufsteigenden Wand. Nichts Ungewöhnliches im Hochgebirge, doch hier handelte es sich um einen hartnäckig verteidigten Siedlungsplatz. In lockerer Anordnung gruppieren sich gut ein Dutzend Häuser, die im Frühjahr und Herbst Mensch und Vieh Behausung bieten – ein Vorsäß. Zwischen die Bauten eingestreut eigenartige Felsbrocken, als ob einst Riesen hier gespielt hätten; auch verwunderlich, dass die Siedlung seit dem 17. Jh. bezeugt ist und trotz Lawinen seit Generationen überdauert. Nicht ganz: Einst stiftete ein Wirmbödner eine Kapelle am Rand der Siedlung, ein kleiner Bau von ca. drei mal drei Metern, gemauert aus Feldsteinen mit ausladendem Dach und Türmchen. 30 Jahre hielt sie, doch am 15. Februar 2012 machte sie eine Lawine zur Ruine. Bereits zehn Tage darauf beantragte der Grundbesitzer einen Ersatzbau. So beginnt die Geschichte, die mit der Weihe der neuen Antonius-Kapelle am 7. August 2016 ihren Abschluss fand.

Das Plateau unterhalb der Kanisfluh, die von hier rund 1000 m aufsteigt; die Lawinen nehmen gewöhnlich den Weg durch die Furchen der Wand und verschonen den Siedlungsraum.

Zwei Themen bewegten die Gemüter: Standort und Bauweise. Beim ersten einigte man sich bald: weg vom lawinengefährdeten Platz, Kapelle ins Zentrum der Siedlung, geistige Mitte für den Ort. Die Bauweise war strittiger. Erster Gedanke: Wiederaufbau wie gehabt; dann die Idee eines Holzbaues. Man suchte externen Rat beim Architekten Sven Matt. Bei der Alpsegnung 2014 wurde mit einer Baumaske der Standort fixiert, dann der Entwurf erörtert, was der Architekt als „scharfe Diskussion“ erinnert. Einen „monolithischen Architekten-Entwurf aus Beton“ wollte er. Ein Raum in den Abmessungen des Vorgängerbaues mit steilem Dach, so hoch wie das Türmchen des Vorgängers. Gründe für den Beton: Lawinen- und Steinschlagsicherheit, Witterungsbeständigkeit, die Gewohnheit, herausgehobene Bauten aus Stein zu errichten. „Betonbunker“ bekam er zu hören, was ihm noch heute in den Knochen steckt. Ihm wurde klar: „Ich musste runter vom hohen Ross des alleinigen Gestalters.“ Vermittlung war nun angesagt. Das gelang: Heraus kam ein Bau mit Wänden aus Stampfbeton und sichtbaren Wirmbodensteinen, steilem Holzdach mit Schindeln, eine verglaste Lichtöffnung anstelle des Firstes, der eigentlichen Lichtquelle des Raumes. Vom Streit beim Vieh-Auftrieb zur Zustimmung beim Abtrieb. Sven Matt im Rückblick: „Ich bin heute froh um diese Auseinandersetzung, den Weg vom harten Entwurf-Objekt zum weichen Kapellenbau der Gemeinschaft. Das hat mich geprägt.“

„Die Auseinandersetz-ung hat mich geprägt:
Runter vom Ross, zuhören, reden und zusammen bauen.
Dann gelingt es.“

Sven Matt
Architekt

Natürlich wollte man nun mit örtlichen Baustoffen schaffen – leichter gesagt als getan. So stellte sich heraus: Der Stein ist wegen seiner Porosität für reines Mauerwerk ungeeignet. Die Lösung: sichtbarer Einbau in die Betonwand. Doch: Alle Baustoffe kommen aus einem Umkreis von 20 km, neben dem Stein die feinjährige Haselfichte von Lech oder die Fichtenschindel aus Damüls. Vor allem aber: Die Arbeit blieb am Ort. Im folgenden Frühjahr ging’s Bauen los. Das wurde – außer Vorbereitungsarbeiten in den Werkstätten im Tal – ein Gemeinschaftswerk der Wirmbödner, etwa acht Wochenenden in voller Besetzung. Herausforderung war wieder die Wand: Während die innere Schalung komplett gestellt wurde, baute sich die äußere in 50-cm-Ringen nach oben auf; Einbringen des Betons, Einsetzen der Steine, händisches Verdichten geschahen Zug um Zug, ohne Armierung. Man sieht dem Bau diese Schritte noch heute an, wie nach oben hin Sicherheit und Können zunahmen. Dach mit Schindeln und Dachreiter wurden dann dank überlegter Vorarbeit und üblicher Details in kurzer Zeit gesetzt. So steht sie nun da: im Zentrum der Siedlung, Respektsabstand zu den Alltagshäusern, nahe den Findlingen, selbst sehr „steinig“: Ein bescheidener, doch für Besinnung ganz ausreichender Raum; Zugang mittig vom Giebel, gegenüber ein Schlitz mit blauem Glas, Boden und Wände aus rauem Naturstein und Beton, steil aufsteigend eng liegende Sparren, im Spitz die Öffnung, „open to the sky“, wie Johnny Cash singt. Das Dach aus dem feinen Holz – sonst für den Instrumentenbau vorbehalten – spielt noch eine Rolle: Am Fuß, zwischen den Sparren, nehmen die Nischen je ein Bildnis der Vorfahren der Wirmbödner auf. „Es ist eine besondere Stimmung“, so Karlheinz Gasser, dem dieses Bauwerk eine Herzensangelegenheit wurde, „wenn die Tür geschlossen wird. Blaues Licht vorn, Helligkeit von oben, ist man mit sich allein, sieht nichts von all dem draußen und hört doch alles deutlich.“ Man sitzt auf zwei Holzbänken neben dem hölzernen Türstock mit Glockenraum über dem Sturz. Über dem blauen Licht ein einfaches Kreuz, seitlich zwei Findlinge, darauf Kerzen, gelegentlich Blumen – das ganze Interieur.

Mithilfe einer „Baumaske“ legt die Gemeinde den Standort fest; keine Simulation, keine Computer- zeichnung ersetzt den Weg vor Ort.
Eng gestellte Sparren, Untersicht der Schindel und an der Fußschwelle eine Galerie der Vorfahren der heutigen Wirmbödner.

Die Tür der Kapelle wird nie abgeschlossen. Platz wäre wohl für die Heilige Familie, das Vieh auf umliegende Ställe angewiesen. In unseren Tagen kommen Wanderer; wechselnder Blumenschmuck kündet von stiller Einkehr mancher Wirmbödner. Einmal im Jahr erhalten Mensch und Vieh und Siedlung vor der Kapelle den Alpsegen. „Wenn ich abends vor meiner Hütte sitze“, schwärmt Rosmarie Gasser, „reiht sich das ,Kappele’ in die Bergspitzen von Gopfspitz, Hangspitze und den anderen ein.“ Sie hat etwas von einem Kristall, gehört ganz zur Bergwelt. Und passt zu den Bewohnern dort oben. Noch wandern sie mit dem Vieh im Jahresrhythmus auf die Berge und genießen jeweils einige Wochen die Freiheit des Vorsäß. Für dieses Leben und seine Zukunft steht das „Kappele“ – mit Goethes Wort: „Nimmer sich beugen, kräftig sich zeigen, rufet die Arme der Götter herbei!“

Kein Blick nach außen stört die Konzentration. Licht durch blaues Glas, darüber das feine Kreuz vom Schlosser, Licht von oben.
Tageslicht von oben, aufsteigendes Blau, der Farbe des Glaubens und Entrückung, Kerzenlicht: Mehr braucht Besinnung nicht.
Anfangs ging’s hoch her: Es braucht Zeit und manchen Schluck, bis in langen Diskussionen die Kapelle die heutige Form annimmt.
Architekt Sven Matt und der derzeitige Obmann der Agrargemeinschaft Wirmboden, Karlheinz Gasser, erörtern Vorzüge einfachen Bauens.

Daten & Fakten

Objekt Bergkapelle Wirmboden, Schnepfau
Bauherr Vorsäßgenossenschaft Wirmboden
Architektur Innauer Matt Architekten, Bezau
Statik Merz Kley Partner ZT, Dornbirn
Bauleitung Karlheinz Gasser, Schnepfau
Planung 1/2013–8/2016
Ausführung 4/2016–8/2016
Nutzfläche 6 m²

Bauweise Massivbau aus gesammelten Steinen und Stampfbeton im Verbund; Dachstuhl mit eng liegenden Fichtensparren zur Aufnahme der Schneelast; Firstträger aus gestrahltem Edelstahl, einfach Verglasung gestrahlt; Dacheindeckung mit grob gespaltenen Holzschindeln;
Altarfenster blau gefärbte Einfachverglasung; Innenausbau Sitzbänke, Glockenstuhl, Eingangstüre aus massiver Haselfichte; Beschläge, Schlüssel, Griffe und Kreuz aus gestrahltem Edelstahl; Fußböden von Hand geglättete Betonplatte mit Flachsteinfindlingen

Besonderheiten Gesamte Ausführung in Eigenleistung durch die Mitglieder der Vorsäßgenossenschaft

Ausführung Bauteile aus Edelstahl gestrahlt durch Felder Metall, Andelsbuch; Unterstützung der Betonarbeiten durch Oberhauser Schedler Bau, Andelsbuch; Bereit-stellung von Werkstatt, Maschinen und Montagematerial durch Michael Kaufmann Zimmerei, Reuthe

Baukosten 24.000 Euro