Einsicht und Rücksicht
Viele Gebäude entstehen heute bereits in Vorwegnahme einer gewissen Flexibilität, die die Errichter(innen) sich selbst und anderen für spätere Nutzungen ermöglichen wollen. Dabei wäre sie bereits jetzt Gebot der Stunde,
nicht als Empfehlung für die nächste Generation, sondern im Hier und Jetzt.
Die Transformation des „Torkels“ in Röthis ist ein wunderbares Beispiel für eine aktuelle Nachnutzung.
Autorin: Verena Konrad | Fotos: Angela Lamprecht
Einsicht bedeutet in unserer Alltagssprache das subjektive Erkennen und Begreifen von Zusammenhängen, Beziehungen und Eigenschaften. Rücksicht das Beachten gegebener Verhältnisse. Das Projekt gewährt im doppelten Wortsinn Einsicht, und zeugt vom tiefen Verständnis, das die Bauherrschaft und die Architektin entwickelt haben. Nicht nur für ein vorhandenes Bauwerk, sondern auch für Nutzung und Nachnutzung von Ressourcen: Für deren Bedeutung für uns persönlich, aber auch für Dorf und Umgebung, für Gesellschaft und Gemeinschaft. Der „Torkel“ ist damit nicht nur ein Sanierungsprojekt, sondern Ausdruck zeitgemäßen Gestaltens und Nutzens von Bestand – ganz natürlich, souverän, freudvoll und großzügig. Er ist eine Inspiration für alle, die sich daran ein Beispiel nehmen wollen. Ein Ausdruck für eine Architektur des Sorgetragens, der Verantwortung, des Hinschauens – und doch wirkt alles so einfach.
Viele Gebäude entstehen heute bereits in Vorwegnahme einer gewissen Flexibilität, die die Errichter(innen) sich selbst und anderen für spätere Nutzungen ermöglichen wollen. Dabei wäre sie bereits jetzt Gebot der Stunde, nicht als Empfehlung für die nächste Generation, sondern im Hier und Jetzt. Die Transformation des „Torkels“ in Röthis ist ein wunderbares Beispiel für eine solche Nachnutzung. Bereits seit dem 15. Jahrhundert befand sich hier ein Weinpresshaus, im Ort bekannt als „Lumpentorkel“. Die Winzergenossenschaft Röthis errichtete an gleicher Stelle 1943 den heutigen Torkel in seinen Grundmauern und nutzte das Gebäude weiterhin als Weinpresshaus bis Ende der 1950er-Jahre eine Tischlerwerkstatt daraus wurde, in Betrieb bis Mitte der 1990er-Jahre.
Gebäude und Umfeld erzählen noch heute von diesen Nutzungen. Seit einem Jahr leben hier nun Petra und Thomas Feurstein mit ihren Kindern. „Wir hatten schon länger gesucht, als wir 2016 durch private Kontakte von diesem Haus erfahren haben“, erzählt die Bauherrin bei unserem Besuch. „Gleich bei der ersten Besichtigung hat uns das Objekt sehr angesprochen. Der Torkel war in einem guten Zustand und beeindruckte uns mit seinen räumlichen Besonderheiten. Auch die zentrumsnahe Lage des Objekts und die umliegende Infrastruktur haben uns gefallen.“ Seit 2016 hat sich im Umfeld viel getan. Eine Wohnanlage wurde gegenüber errichtet, das Straßenbild hat sich verändert. Der Torkel ist geblieben.
„Wir haben das Notwendige gemacht, den Bestand gesichert und
mit dem Vorhandenen gearbeitet. Darauf aufbauend ist
ein neues Wohnhaus in alten Mauern entstanden.“
Julia Kick
Architektin
Das Gebäude ist eingebettet in eine gewachsene Struktur aus privaten Wohnbauten und dazugehörigen Gärten entlang des Hanges. Es prägt den Straßenverlauf, den es mit einem kleinen Vorplatz räumlich strukturiert, wie ein Ankerpunkt. Die offenen Läden der ehemaligen Werkstatt sprechen eine freundliche, einladende Sprache. Zum Hang hin verlaufen die Gärten ineinander, ohne Zaun, ohne hermetische Abgrenzungen.
Auf den ersten Blick erkennbar ist der Respekt vor dem Vorhandenen, eine Haltung, die als Gestaltungsprämisse das ganze Projekt trägt und bis ins Detail erkennbar ist. Das Wohnhaus Torkel ist in seiner Gestalt der alten Form treu geblieben und auch in seinen Bezügen zur Dorf- und Gartenlandschaft.
Die offene, freundliche Kultur dieses Projektes schreibt sich auch im Inneren fort. Die freigelegten Balken tragen noch immer sicher die Konstruktion des Hauses und und stiften ehrlich sichtbar eine verbindliche Atmosphäre. Jahreszeiten und Wetter sind im Raum präsent durch großflächige Verglasungen und Holzfenster, vor allem zum Garten hin. Vieles wurde beibehalten oder wiederverwendet, Neues – wie die Küche – eingestellt.
Die Räume im Torkel sind größtenteils offen ineinander verzahnt. Kochen, Essen, Wohnen, Lesen, Arbeiten, Mediennutzung, Schlafen, Spielen, Gäste empfangen – der Torkel ist zu einem sehr zeitgemäßen Wohnhaus geworden, das vielen Ansprüchen gerecht wird.
Architektin Julia Kick begleitete das Projekt vom Vorentwurf bis zur Inneneinrichtung. „Petra und Thomas haben den Wert des grundsätzlichen Entwurfgedankens erkannt und konsequent mit mir gemeinsam verfolgt und umgesetzt.“ Während der Bauzeit übersiedelte die Familie in eine kleine Wohnung im Nachbarhaus und war stark durch Eigenleistung im Bauablauf miteingebunden. „Nur so konnten bestimmte Details, die großen Stundenaufwand mit sich brachten, umgesetzt werden.“
Mittlerweile wohnt die Familie ein knappes Jahr im alten, neuen „Torkel“. „Der erhalten gebliebene Charakter des Objektes ist hoffentlich eine Bereicherung für das Dorfbild und an der Hausfassade entlang rankender Wein und die abends erleuchtete Laterne über dem Eingang erinnern noch immer an die ursprüngliche Verwendung des Objektes als Weinpresshaus.“
Eine Baukulturgeschichte von
vai Vorarlberger Architektur Institut
Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg. Neben Ausstellungen und Veranstaltungen bietet das vai monatlich öffentliche Führungen zu privaten, kommunalen und gewerblichen Bauten. Mehr unter Architektur vor Ort auf www.v-a-i.at
Daten & Fakten
Objekt Torkel, Röthis
Eigentümer Petra und Thomas Feurstein
Architektur Julia Kick Architekten, Dornbirn, www.juliakick.com
Statik Bauer Spezialtiefbau, Wien, Christian Rinderer
Fachplanung Ellensohn, Dornbirn
Planung 03/2017–07/2018
Ausführung 07/2018–07/2019
Grundstücksgröße 390 m²
Nutzfläche 179 m² (davon 156 m2), über 1,8 m Raumhöhe, Keller 68 m²
Ausführung Baumeister: Peter Keckeis, Röthis; Zimmerer: Gebrüder Keckeis, Lustenau; Fenster: Bene, Schwarzenberg; Innenausbau: Pius Mätzler, Andelsbuch; Böden: Bleiner, Vandans, und Albert Moosbrugger, Zwischenwasser; Heizung, Lüftung: Strele, Dornbirn; Elektro: René Matt, Lustenau; Dach: Stefan Hämmerle, Lustenau
Energiekennwert 45 kWh/m² im Jahr (HWB)