Zeiten im Umbruch: Einst wurde die kleine Stadt bestenfalls herablassend als Krähwinkel oder Provinznest zur Kenntnis genommen – verzopft, verschlafen. Die großen Metropolen zählten, Ausbund an Vitalität! Doch Ernüchterung kehrt ein. Man beginnt, die Qualität eines überschaubaren ­Kosmos zu schätzen, wo man einander kennt und im Gespräch ist.
Und siehe da: ­Gerade die kleine Stadt bringt immer neue urbane Qualitäten hervor.

Autorin: Florian Aicher | Fotos: Nicolas Felder

AUFTAKT der 1928er-Altbau, mit markanter Farbgebung neu belebt. Rechts ein kleiner Neubau, links das Hauptgebäude der Wohnanlage.
BEZIEHUNG ZUM UMFELD Jede der Wohnungen im Hauptgebäude hat je eine Loggia und einen luftigen Balkon.

Etwa in Immenstadt im Allgäu mit rund 15.000 Einwohnern. Am Rand der Altstadt, wo sich vor 100 Jahren eine bescheidene Weststadt entwickelte, entstand 1928 nach Plänen des Stadtbaumeisters Gubitz das „Sanitäts­kolonnenhaus“, ein Rotkreuzhaus. Die Komposition eines Haupt- und Nebengebäudes mit malerisch angelegter einspringender Ecke und Türmchen vereint Wohn-, Unterrichts- und Verwaltungsräume mit technischen Räumen wie Wagenhallen. Der monumentale Bau mit Walmdach verbindet Elemente des Heimatstils mit Expressionismus – wie ein Amtshaus dieser Zeit in München. Die Nachkriegsmoderne banalisierte den Bau und ab 2010 befand ihr neuer Besitzer, die Stadt, den Bau nur noch abrisswürdig. Immerhin: Man rang sich zu einem Investorenwettbewerb durch.

Immer ein Gewinn: Substanzielle Qualität anderer Epochen – hier: Expressionismus – bereichert die Sprache unserer Zeit.
EINGLIEDERUNG des kleinen Wohnbaus ins bescheidene Straßenbild, doch im Detail Anknüpfung an den repräsentativen Eckbau.

Den konnte 2017 die Firma Kirchmann Löffler mit detaillierten Plänen, Nutzungs- und Kostenkonzept für den Altbau mit angrenzenden Grundstücken für sich entscheiden. Der Plan: Erhalt des Altbaus und zwei Neubauten für Wohnzwecke sowie – alle drei Gebäude verbindend – eine Tiefgarage. Planung und Ausführung folgten unmittelbar.
Mit minimalen Eingriffen entstanden im Altbau sieben Wohnungen, dazu ein Büro. Auch wenn vom Denkmalamt übersehen, wurde Bestandssicherung groß­ geschrieben. Historische Elemente wie Böden und Türen wurden freigelegt; vor allem das Treppenhaus ist nun ein beeindruckendes Zeugnis dieser Epoche. Mit gleicher Sorgfalt wurden Gewände und Skulptur am Eingang bedacht. Bei der Außenansicht wurden zwei Ansätze verfolgt: Einerseits zielten farblich abgesetzter Architekturschmuck und neue Klappläden auf den ursprünglichen Zustand. Andererseits nahm man sich bei den Mauerblenden an den Ecken, den Lisenen, am Sockel und neuem Farbgrund die Freiheit unserer Zeit: Das violette Grau greift das vorherige Rosa auf, ohne es zu zitieren; der Bau bekommt eine klassische Note. Ein neues Wohngebäude mit sechs kleineren Wohnungen folgt an der Hauptstraße; die Perlenkette gleicher Baukörper mit variierter Fassade ist nun geschlossen.

„Wenige Elemente sollen ein feines,
vielschichtiges ­Relief erzeugen und einen
Hintergrund für das Leben der Bewohner(innen) bilden.“

Maximilian Kirchmann
Architekt

Das Leben mit großen Fenstern und Balkonen orientiert sich zum Hof nach Süden; zur Straße ist der Neubau aus Schallschutzgründen erst im Obergeschoß mit Fenster versehen. Das Erdgeschoß ziert ein wandfüllendes Holzrelief der Künstlerin Waltraud Funk. „Stilisierte Motive wie Gipfel, Wald, Wasser und Kristall beleben den Expressionismus des Nachbarbaus mit heutigen Mitteln.“ Ein polychromer Akzent, der aufs Land hinausweist.

Urbanes Leben: Hintergrund der öffentlichen Nutzung an einer Straßenecke bildet der selbstver­ständliche Bau des Wohnhauses.

Anders der Neubau an der Nebenstraße: vierfach im Volumen, über Eck geführt. Ein Wohnhaus, vier Geschoße, großzügige Wohnungen zwischen 80 und 130 m2, überhöhte Raumlichte von 260 cm, je Wohnung Loggien und Balkone, durchgehend raumhohe Fenstertüren mit Klappläden. ­Grundsolide Ausführung als massives Mauerwerk ohne zusätzliche Dämmung, Stahlbetondecken, ein flachgeneigtes Kaltdach, ziegelgedeckt. Robust auch die Haustechnik: Eine Pelletheizung versorgt beide Neubauten, Klimatisierung entfällt. Und doch wird insgesamt die Energieausweis-Kategorie „Niedrigstenergiehaus“ erreicht.
Weiße Räume, hell, nach mehreren Richtungen orientiert, Massivholzböden, Lärchenfenster – das Ambiente erinnert an Berliner Gründerzeithäuser. Dazu großzügig Keller mit Tiefgaragenplätzen, reichlich Austritt ins Freie, und ein grüner Gemeinschaftshof, der mit dem reichen Baumbestand der Umgebung das Gefühl gibt: Wohnen im Park. Das kommt offensichtlich gut an: Die 29 Eigentumswohnungen seien zügig verkauft worden, berichtet der Bauherr Kirchmann; eine lebendige Mischung des Mittelstands habe zusammengefunden. Rein äußerlich: ein städtisches Wohnhaus. Das Erdgeschoß, einige Stufen über Straßenniveau, bildet mit Normalfenstern und Loggien einen hellgrauen Sockel. Darüber erheben sich drei Obergeschoße: französische Fenster mit Klappläden vor geputzter Wand. Dessen altrosa Anstrich im Wechsel mit weißen Läden und gemalten Umrahmungen, dem Lärchenholz der Fenster und einigen Loggien verleiht dem Haus eine ausgesprochen elegante, städtische Noblesse. Der knappe Dachanschluss unterstreicht den straffen Charakter des Baus, der sich lediglich an der Ecke mit einem diagonal ausgerichteten Erker mit Giebel eine Sonderform leistet – und so auf den Straßenschwung reagiert mit großzügigem Blick zur Altstadt. „Es ging darum, mit einfachen Mitteln auf die Umgebung zu reagieren“, so Architekt Maximilian Kirchmann, „und dabei mit wenig Elementen ein feines, vielschichtiges Relief der Fassade zu erzeugen, das einen Hintergrund für die Lebendigkeit bildet, die die Bewohner ins Haus mitbringen.“

Außen wie innen: hohe Geschoße, Fenstertüren in ausgewogenem Rhythmus, Massivholzböden vermitteln städtische Großzügigkeit.
Zusammenspiel mit Zukunfts­potenzial: Architekt Maximilian Kirchmann mit Vater Karl, dem Projektentwickler.
Nicht Kontrast, sondern lebendiges Wechselspiel zwischen selbstbewusst-bodenständigem Heimatstil und bürgerlicher Noblesse.
Großzügig im Altbau: überhohe Wohnräume, Belichtung von zwei Seiten, altes Parkett und ein moderner Kern für die Nassräume. 

Eine Baukulturgeschichte von
vai Vorarlberger Architektur Institut
Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg. Neben Ausstellungen und Veranstaltungen bietet das vai monatlich öffentliche Führungen zu privaten, kommunalen und gewerblichen Bauten. Mehr unter Architektur vor Ort auf www.v-a-i.at

Daten & Fakten

Objekt Neubau zweier Mehrfamilienhäuser mit Tiefgarage und Sanierung des ehemaligen Rotkreuzhauses

Bauherr Kirchmann Löffler Wohnbau, Immenstadt im Allgäu

Architektur BOLTE | Einselen & Kirchmann Architekten, Kirchheim unter Teck, www.bolte-architekten.de

Statik Berkmann, Weiler im Allgäu

Fachplanung Fachplanung Geologie: GEO-CONSULT, Blaichach; Bauphysik: Kurz/Fischer, Winnenden; Energie: Engstler, Sonthofen; Elektro: Baldauf, Sonthofen; Heizung, Lüftung, Sanitär: Karlinger, Oberstdorf

Planung 2017–2019

Ausführung 2018–2020

Grundstücksgröße 2204 m²

Wohnnutzfläche 2802 m²

Bauweise Massivbau; monolithisches Ziegel­mauer­werk; Stahlbetondecken; Trockenbauzwischenwände; Ziegeldach; Holzfenster Lärche; Heizung; Pelletkessel über Fußbodenheizung

Ausführung Baumeister: Hans Reiter, Sonthofen; Zimmerer: SJ, Rettenberg; Spengler: Keinath, Ofterschwang; Trockenbau: Seyband, Kempten; Fenster: Hugo Wirthensohn, Dietmannsried; Türen: Speiser, Niedersonthofen Schlosser: Bentele, Blaichach; Heizung/Lüftung: Fechtig, Waltenhofen; Elektro: Bader, Oberstdorf; Außenanlage: Schellheimer, Wildpoldsried

Energiekennwert 17 kWh/m² im Jahr