Wohnen mit Weitblick
In einem gewachsenen Wohngebiet am Bludenzer Stadtrand hat Atelier Ender eine Wohnanlage realisiert, die sich mit Feingefühl in die Landschaft einfügt. Das Projekt überzeugt nicht nur durch seine architektonische Klarheit, sondern auch durch einen sozialen Anspruch, der über Grundstücksgrenzen hinausreicht.
Text Marcella Zauner · Fotos Christa Engstler, Marcus Ender

Das Siedlungsgebiet der Stadt Bludenz ist geprägt von markanten topografischen Unterschieden. Bereits der Weg vom Bahnhof in Richtung Altstadt führt über den kurzen Anstieg des Postbühels. Im Nordwesten der Stadt beträgt der Höhenunterschied zum Zentrum über 100 Meter. Dort, am Fuße des Muttersbergs, wurde eine neue Wohnanlage errichtet. Auch auf dem betreffenden Grundstück sind die Geländeunterschiede deutlich spürbar. Eine Terrassierung der Landschaft ist im Bludenzer Obdorf unüblich – entsprechend wurde die neue Bebauung ortstypisch an das Gelände angepasst. Die architektonische Antwort darauf ist ein Sprung im Gebäudevolumen um ein halbes Geschoß. Von außen ist dieser Versatz kaum erkennbar, so elegant führt das Steildach die Höhenunterschiede zu einer Einheit zusammen.


Es trägt zudem dazu bei, dass sich das Gebäude zurückhaltend in die bestehende Bebauung einfügt. Die umliegenden Bestandsbauten sind überwiegend Wohnanlagen mit Flachdächern, deren starker horizontaler Abschluss der Gebäudehöhe mehr Dominanz verleiht. Die neue Wohnanlage hingegen schafft durch ihre Formensprache einen Übergang zu den Siedlungshäusern auf der anderen Bachseite und den Mehrfamilienhäusern in der Nachbarschaft. Apropos andere Bachseite: Die neue Wohnanlage befindet sich östlich vom Galgentobel, westlich davon steht seit rund 80 Jahren die Südtiroler Siedlung von Bludenz. Eigentümerin beider Anlagen ist die Alpenländische Gemeinnützige Wohnbau GmbH. Für die Auftraggeberin stellt das Projekt im Obdorf einen Brückenschlag dar. Das Projekt verdeutlicht, dass soziale Grenzen räumlich überwunden werden können, zumal östlich des Galgentobels nahezu ausschließlich Privateigentum vorherrscht.

„Das Volumen dient als Gelenk zwischen den unterschiedlich ausgedrehten Bebauungsrastern der Südtiroler Siedlung und des Obdorfes, was durch das trapezförmige Bauvolumen lesbar wird.“
Ursula und Marcus Ender
Architektur

Insgesamt wurden 15 Wohnungen realisiert – darunter Zwei-, Drei- und Vierzimmerwohnungen. Pro Halbgeschoß befinden sich jeweils zwei Einheiten, im Regelgeschoß treffen somit vier Wohnungen aufeinander. Jede Wohnung ist in eine andere Himmelsrichtung orientiert und verfügt über eine großzügige Loggia. Diese wurden so platziert, dass sie die Baulücken der Nachbarbebauung nutzen und gezielte Durchblicke ermöglichen. Die Höhenlage des Grundstücks sowie dessen Zuschnitt eröffnen einen beeindruckenden, nahezu umlaufenden Weitblick: Im Osten erstreckt sich der Blick über die Stadtlandschaft in Richtung Montafon. Der imposante Rätikon bildet das südliche Gegenüber und im Westen prägt der Säntis den Horizont. Die gezielte Ausrichtung der Ausblicke gründet in einem geschickt zugeschnittenen Baukörper. Dessen Grundriss nimmt die Achsen des Grundstücks sowie die Hauptachsen von Bach und Obdorfweg auf. Der trapezförmige Baukörper weicht von der bestehenden, stringenten Baukörperanordnung ab und nutzt dadurch entstehende Qualitäten, wie Durchblick und Distanz, respektive Privatsphäre.

Eine Verwandtschaft zur Südtiroler Siedlung zeigt sich auch in der Gestaltung der Fassade. Die Wohnanlage wurde als Lochfassade mit quadratischen Fenstern entworfen. Der Mauerwerksbau ist wärmegedämmt und mit einem zementgrauen Rieselputz versehen. Typisch sind auch die abgesetzten glatten Putzfaschen, welche die Öffnungen rahmen. Neben der Architektur spielt auch die Freiraumgestaltung eine zentrale Rolle für das Zusammenleben im Quartier. Die Topografie ermöglichte es, Autos, Motorräder und Fahrräder am südlichen Rand des Grundstückes in das Erdreich zu führen. Dadurch gewinnen die Freiflächen an Aufenthaltsqualität, da sie vollständig verkehrsbefreit sind. Eine weitläufige, offene Treppe bildet das Entrée zur Wohnanlage und erschließt die gemeinschaftlich nutzbaren Außenbereiche und Spielflächen im Süden des Grundstücks.


Die Landschaftsarchitektur ergänzt das architektonische Konzept mit einer einladenden Geste: Eine Blumeninsel mit zart blühenden Felsenbirnen und integrierter Sitzgelegenheit wirkt wie ein Blumenstrauß zur Begrüßung von Bewohner(inne)n und Besucher(inne)n. Auf derselben Ebene wurden Reben von wildem Wein gepflanzt, die sich über die Geländer der Garageneinfahrt ranken und dort als farbiger Vorhang entfalten können. An den östlichen und südlichen Grundstücksgrenzen wurden Flieder und Zierkirschen gesetzt, auch beim Spielplatz sorgen Bäume künftig für natürlichen Schatten. Die Pflanzenauswahl folgt dem Prinzip der Standortgerechtigkeit und orientiert sich an der typischen Vegetation des regionalen Landschaftsraums. Die neue Wohnanlage im Obdorf zeigt, wie durchdachte Architektur nicht nur Räume schafft, sondern auch Brücken – zwischen Landschaft und Stadt, Alt und Neu, Nachbarschaft und Gemeinschaft.
Eine Baukulturgeschichte von VAI.
Das vai ist die Plattform für Architektur, Raum und Gestaltung in Vorarlberg.
Es bietet Ausstellungen, Veranstaltungen und Führungen zu diversen Bauten. Mehr Infos auf www.v-a-i.at
Wohnanlage Obdorfweg, Bludenz
Bauherr: Alpenländische Gemeinnützige WohnbauGmbH, Feldkirch
Architektur: ATELIER ENDER | ARCHITEKTUR, Nüziders; www.atelierender.at
Statik: Kofler Baustatik GmbH, Götzis, kofler-baustatik.at
Planung: Entwurf bis Behördenplanung 12/2018–9/2020; Ausführungsplanung 2/2023 – 6/2024
Ausführung: April/2023 – März/2025
Grundstück: 1700 m²
Energiekennwert: 24,41 kWh/m² im Jahr
Gesamtbaukosten: 4,2 Mio. Euro
Nutzflächen: Wnfl. ca. 1100 m²; Loggien ca. 135 m²; Kellerabstellräume ca. 90 m²; Allgemeinflächen inkl. Sozialraum ca. 120 m²; TG ca. 590 m²